Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Artikel 2. Rechtszustand neu erworbener Gebiete. 83 
tretung der beteiligten Einzelstaaten abgeschlossen wird (so geschehen bei 
der preußisch-österreichischen Grenzregulierung am Przemsafluß; der dem 
preuß. G. vom 16. Mai 1902, GS 163, zugrundeliegende Staats- 
vertrag ist nicht von Preußen, sondern vom Reiche verhandelt und ab- 
geschlossen worden, was im HdAbg, Sten Ber 1899 S. 99 bemängelt 
wurde). Notwendig aber auf alle Fälle ist es, daß die Reichsgenehmigung 
von den gesetzgebenden Faktoren des Reiches in der Form eines ver- 
fassungsändernden Reichsgesetzes erteilt wird, da die Reichsgrenzen durch 
Art. 1 RV verfassungsgesetzlich festgelegt, also nur durch ein Ver- 
fassungsgesetz abänderbar sind. Es muß vorausgesetzt werden, daß die 
beiden Gesetze, durch die das Reich der angeführten preußisch-österreichischen, 
sowie einer preußisch-dänischen Grenzverlegung zugestimmt hat — beide 
Gesetze vom 22. Jan. 1902; RGl S. 31, 32 — unter Beachtung der 
Verfassungsänderungsform, RV Art. 78, Abs. 1, zustandegekommen sind. 
13. Einfluß der Annexion auf den Rechtszustand des annektierten 
Gebietes. — Aus dem reichhaltigen und vielseitigen Kreise von Fragen 
über die Rechtsfolgen der Gebietserwerbung kann hier nur eine 
besonders wichtige herausgegriffen werden: die Frage nach dem Ein- 
fluß der Annexion auf das in dem annektierten Gebiete 
geltende Recht. Das Problem ist in der staats- und völkerrechtlichen 
Literatur oft gestreift, noch niemals aber, wie Jellinek, Allgemeine Staats- 
lehre 1 273, Anm. 1, mit Recht bemerkt, gründlich untersucht worden. Auch 
hier muß auf eine erschöpfende Behandlung, die schon durch die Okonomie 
der Darstellung und die gebotene Beschränkung auf ein einzelnes Parti- 
kularrecht ausgeschlossen wäre, verzichtet und können nur Umrißlinien 
und Fingerzeige gegeben werden. 
Darüber, ob und inwieweit das in dem neu erworbenen Gebiet 
(im folgenden abgekürzt mit N bezeichnet) geltende Recht vermöge der 
Annexion (Inkorporation) außer Kraft tritt und durch preußisches Recht 
ersetzt wird, entscheidet natürlich in erster Linie Ausspruch und Wille 
des Gesetzgebers im Einzelfalle: also das gemäß Art. 2 ergehende 
Annexionsgesetz. Die weitaus meisten Gesetze dieser Art enthalten hierauf 
bezügliche Vorschriften. Es wird N etwa einem bestimmten Verwaltungs- 
oder Gemeindebezirke zugeteilt und hierbei angeordnet, daß die dort 
geltenden „Landesgesetze, Verordnungen und allgemeinen Verwaltungs- 
vorschriften“ auch in N in Kraft treten sollen (Beispiel: G. v. 27. Juli 
1905, GS 291, § 3). Oder — ein bei Austausch benachbarter Gebiets- 
teile zum Zweck der Grenzregulierung üblicher Modus — das Gesetz 
führt die in den abgetretenen Flächen geltenden preußischen Rechts- 
normen in den dafür eingetauschten ein (so z. B. G. v. 12. Febr. 1906, 
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