108 Artikel 4. Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich.
wolle. Dieser Hauptzweck, das, worauf der Artikel auch schon in der
Fassung der Reg Vorl vor allem abzielt, ist nicht die Gleichheit vor
dem Gesetze (bei Licht betrachtet, eine Selbstverständlichkeit), sondern
die Gleichheit der Gesetze, d. h. die rechtliche Umgestaltung der Ge-
sellschaftsordnung nach dem Richtmaß der Rechtsgleichheit. Und im
Sinne dieses letzteren Gedankens fügte die Nat Vers in den Text den
Satz ein: „es gibt im Staat weder Standesunterschiede noch Standes-
vorrechte“, sowie, in radikalem Ubereifer, die weiteren Sätze: „der Adel
ist abgeschafft. Der Gebrauch adeliger Titel und Prädikate ist in öffent-
lichen Urkunden untersagt. Orden, sowie Titel, die nicht bloß das
Amt bezeichnen, können nicht mehr erteilt werden“ (nähere Nach-
weisungen bei v. Roenne, Mat. S. 23, 24). Die Motive (s. bei Rauer
S. 121) bemerken hierzu, daß der Satz der Reg Vorl: „alle Staatsbürger
sind vor dem Gesetze gleich“ erst durch die ausgesprochene Aufhebung
der Standesvorrechte seine Bedeutung — nämlich die Bedeutung als
Proklamation der Rechtsgleichheit — erhalte. Dieser Motivierung ist
zuzustimmen. Der zweite Satz des Artikels (der aus dem Entw der
Nat Vers mit Weglassung der auf die Abschaffung des Adels bezüglichen
Anhängsel in der oktr. und rev. Verfassung übernommen wurde) ist keine
bloße Anwendung oder Entfaltung des ersten, er enthält vielmehr einen
neuen und selbständigen, von Satz 1 unabhängigen Rechtsgedanken,
der dann seinerseits durch Satz 3 spezialisiert wird. Danach besteht
das Abhängigkeitsverhältnis der „Konsequenz“ wohl zwischen dem dritten
und zweiten, nicht aber auch — wie der Ber. des ZAussch der I. K.,
Verhandlungen der I. K. S. 644, irrtümlich annimmt — zwischen dem
zweiten und ersten Satze des Artikels.
2. Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich. Dieser Satz,
welcher das belgische Vorbild (Const. belge art. 6: les Belges sont
égaux devant la loi) wörtlich übersetzt, ist nicht (wie bei der Be-
ratung in der I. K. von dem Abg. Triest ohne Grund behauptet
wurde: I. K. a. a. O. 644) sprachwidrig, sondern der grammatisch richtige
Ausdruck eines auch in sich klaren Gedankens. „Vor“ dem Gesetz heißt
angesichts des Gesetzes; wie man etwa zu sagen pflegt, daß vor Gott
alle Menschen gleich sind, so erscheint hier, im Lichte einer ähnlichen
Vorstellung, das Gesetz als ein für alle, die ihm zu gehorchen, ins-
besondere es anzuwenden haben, unverbrüchlicher, unwandelbarer Wille,
als eine Macht, die so hoch über den Menschen steht, daß deren Ver-
schiedenheit dagegen in Nichts verschwindet. Es ist deutlich: Satz 1 des
Artikels spricht nicht davon, was in den Gesetzen stehen und nicht
stehen soll, sondern nur davon, daß das Gesetz, einerlei was es