Artikel 4. Die Aufhebung der Standesvorrechte. 111
sätze und Rechtsinstitutionen der geburisständischen Gesellschaftsordnung,
er verkündet das Grundprinzip der modernen bürgerlichen Gesellschaft, das
allgemeine gleiche Staatsbürgertum. Negativ wie positiv ist der Satz
unmittelbar wirksam, er ist nicht bloß Direktive für die Gesetzgebung,
vielmehr aktuell geltendes, nicht erst zu verwirklichendes, sondern wirk-
liches Recht. Dies ist bei Auslegung dieses Artikels wie auch ana-
loger Bestimmungen anderer Verfassungen bisweilen verkannt worden.
Vgl oben S. 95. Zur Richtigstellung der dort bereits beanstandeten
Außerung Jellineks, Syst. d. subj öff. Rechte S. 97 ist noch zu bemerken:
Art. 4 Satz 2 gehört zu den von Jellinek selbst ganz richtig charakterisierten
Verfassungssätzen, welche „sofort konkrete Gestalt gewinnen“". Das
Prinzip der Rechtsgleichheit im Sinne von Art. 4 Satz 2 verlangt
keineswegs erst noch „konkrete Ausgestaltung durch den Gesetzgeber“, son-
dern es trat mit der Verfassung zugleich, sofort in Kraft, denn es ist gleich-
bedeutend mit dem Vakuum, welches entstand infolge der durch Satz 2
mit unmittelbarer Wirksamkeit angeordneten Aufhebung der Standes-
vorrechte. Unrichtig auch Sarwey, Württ. Staatsr. 1 179 („grund-
sätzliche Direktive für die Gesetzgebung“"). vR 2 6 leidet, wie mir
scheint, an Widerspruch mit sich selbst. Wenn es dort heißt, Art. 4
enthalte keine bloße Verheißung oder Verweisung auf ein künftiges Ge-
setz, so ist dies gewiß richtig, man kann aber dann nicht (wie unmittelbar
vorher geschieht) sagen, der Artikel erhalte erst durch die Einzelgesetz-
gebung einen verständlichen juristischen Sinn und enthalte keine Schranke
für die Einzelgesetzgebung.
5. Die unmittelbare Wirksamkeit des zweiten Satzes besteht darin,
daß ihm widersprechende Normen des früheren Rechts von selbst und
sofort außer Kraft treten und daß die Herstellung oder Wiederherstellung
von „Standesvorrechten“ nur im Wege der Verfassungsänderung er-
folgen darf. Deshalb und insoweit liegt im Art. 4 allerdings, wie
gegen vRZ a. a. O. S. 6 (s. oben) zu behaupten ist, eine „Schranke
für die Einzelgesetzgebung“. Wer berufen ist, über die Innehaltung
dieser Schranke zu wachen, ist eine Frage für sich, die nach den
allgemeinen Grundsätzen über das Verhältnis der richterlichen zur gesetz-
gebenden Gewalt — Art. 106 Abs. 2 — zu beantworten ist. Danach
haben in Preußen die Behörden, auch die Gerichte, die Gesetze
(und königlichen Verordnungen) nicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit
zu prüfen, das Gesetz vielmehr — wofern es gehörig verkündet ist —
unbedingt und auch in dem Falle anzuwenden, wenn es mit Vor-
schriften der Verfassung im Widerspruch zu stehen scheint. Beispiels-
weise dürfte der Richter einem Gesetze, welches die Befähigung zur