Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Artikel 4. Die Standesherren. 123 
fassung wollte, sondern ordnet an, was sie nicht wollte. Es läßt 
Ausnahmen von der Regel des zweiten Satzes des Artikels zu, 
die ursprünglich nicht sein sollten, hat also den Satz 2 nicht „deklariert“, 
sondern geändert. Hierüber herrscht heute wohl Übereinstimmung, 
vgl. insbesondere vRZ# 2 31 Nr. 1, Schwartz S. 54. Selbst wenn 
übrigens die durch das Gesetz getroffenen Bestimmungen nur inter- 
pretatorischen Charakter gehabt hätten, durfte doch das Verfassungs- 
änderungsverfahren (Art. 107) nicht, wie geschehen, unterlassen werden, 
da für die authentische Interpretation einer Norm grundsätzlich die- 
selben Regeln gelten wie für ihre Abänderung. Daß die hier gerügte 
Unterlassungssünde der staatsrechtlichen Gültigkeit des Gesetzes von 1854 
keinen Abbruch tut, geht aus dem hervor, was oben S. 65 bemerkt wurde. 
S. auch Art. 107. 
Der Sinn der „Deklaration“ geht dahin: der Satz „Standesvor- 
rechte finden nicht statt“ läßt die im vorkonstitutionellen preußischen Recht 
begründeten Privilegien der Standesherren unberührt. Der Widerspruch 
zwischen jenem Satze und diesen Privilegien wollte beseitigt werden. 
Diese Beseitigung wirkt für das ganze jeweilige Geltungsgebiet der 
Verfassung, sie muß, obwohl nicht formeller Textbestandteil, als eine 
von der VlI untrennbare, für deren Auslegung (die naturgemäß für 
das ganze Staatsgebiet nur eine einheitliche sein kann) unbedingt maß- 
gebende Zusatzerklärung des Gesetzgebers angesehen werden, welche mit 
der Verfassung selbst in allen späteren Erwerbungen Preußens ein- 
ge führt worden ist (vgl. oben 88, 89). Das Gesetz vom 10. Juni 1854 gilt 
also insbesondere auch in den 1866 erworbenen Provinzen. So: Loening, 
Autonomie der standesherrlichen Häuser Deutschlands (1905) S. 47, 48, 
Bornhak, StR 1 324, AM bRZ 2 60, 61, Arndt, Komm. S. 86, 
Schwartz S. 54, 55. Folgt man letzteren, so muß man annebmen, 
daß die Sonderrechte der Standesherrren in den alten Provinzen mit 
der Verfassung verträglich, in den neueren aber mit ihr unverträglich 
und aufgehoben sind. Das kann nicht der Wille des Gesetzgebers sein. 
Das Gesetz vom 10. Juni 1854 ermächtigt den König, die zur 
„Wiederherstellung“ der seit 1818 „verletzten“ (die Wahl dieser Ausdrücke 
beweist am besten, daß man die Standesherren ursprünglich weder 
schonen wollte, noch auch geschont hatte) Privilegien erforderlichen Be- 
stimmungen im Verordnungswege zu treffen, es gibt ferner das Richt- 
maß an, nach dem die Restauration erfolgen sollte und schließt endlich 
von der Restauration diejenigen Rechte aus, welche die Beteiligten 
„durch rechtsbeständige Verträge aufgegeben“ hatten. Daraupfhin er- 
gingen zwei Königliche Verordnungen, beide vom 12. November 1855
	        
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