156 Artikel 9. Die Unverletzlichkeit des Eigentums.
bedeutet sie mehr? Für die erstere, engere Deutung scheint die Ent-
stehungsgeschichte zu sprechen, für die andere, weitere aber streitet, richtig
verstanden, der Wortlaut.
Die Textentwicklung bringt den ersten Satz, wie gezeigt, erst seit
der oktr V. Daß der voraufgehende, auf die Sicherung der individuellen
Freiheitsrechte so außerordentlich bedachte Komm Entw der Nat Vers den
Satz (dessen wortgetreu kopiertes Muster, § 164 Abs. 1 der Frankfurter
Reichsverfassung, damals schon vorlag) nicht aufnahm, beweist zur Genüge,
daß man ihn nicht für nötig hielt. Man ging offenbar — und mit
Recht — von der Ansicht aus, daß nicht nur willkürliche Expropriationen
i. e. S., sondern alle administrativen Eigentumsbeschränkungen ohne ge-
setzliche Grundlage unzulässig seien und daß sich diese Unzulässigkeit nach
den allgemeinen Prinzipien der Verfassung von selbst verstehe. Aus den
Revisionsverhandlungen geht nun nicht hervor, daß man in dem, inzwischen
hinzugekommenen ersten Satz etwas materiell Neues sah. Man wollte ihn
zuerst streichen, weil er „unwahr" (s. oben Nr. 1 zu 1) und, soweit wahr,
entbehrlich sei (Nr. 1 zu IIg; schließlich ließ man ihn stehen, weil der
ZAussch in ihm (in diesem ersten, nicht nur im zweiten Satzel) das strikte
Verbot „willkürlicher Enteignungen durch die Regierungsmacht“ er-
blickte und ihn mit Bezug hierauf befürwortete. Es scheint somit (val.
auch noch die Außerungen des Justizministers, oben Nr. 1 zu II), daß die
verfassunggebenden Faktoren nicht sowohl — was ganz zweifellos ist,
s. unten S. 164 ff. — bei dem zweiten, als auch bei dem ersten Satze nur
an expropriative Eingriffe, an Enteignungen i. e. S. gedacht haben.
Doch können diese, der Entstehungsgeschichte entnommenen Beweis-
gründe für die enge Interpretation des ersten Satzes nicht entscheidend
ins Gewicht fallen, da, bei genauerer Betrachtung, das zunächst Maß-
gebende, der Wortlaut, die ausdehnende Deutung als die richtige er-
scheinen läßt. Was heißt „unverletzlich“ Natürlich nicht soviel wie
faktisch unzerstörbar. Auch ist dabei ganz sicher nicht an die Pflicht des
Staates, Eigentum und Eigentümer vor Dieben und Räubern zu schützen,
gedacht (s. hierüber bei Art. 5 S. 136, Art. 6 S. 144; unrichtig Schwargz,
Art. 9 Anm. A). Wie die andern grundrechtlichen Bestimmungen, ins-
besondere die ihm nahe verwandten Art. 5 und 6, besitzt auch Art. 9
keine privat= oder strafrechtliche, sondern eine ausschließlich staats- und
verwaltungsrechtliche Bedeutung. Mit „Unverletzlichkeit“ kann nur eine
bestimmt gualifizierte Stellung des Privateigentums zur Staatsgewalt
gemeint sein.
3. Die Unverletzlichkeit des Eigentums. — Das Wesen dieser
Stellung ist kein anderes als das der durch Art. 5 gewährleisteten