Artikel 9. Die Unverletzlichkeit des Eigentums. 157
„persönlichen Freiheit“; es beruht hier wie dort auf dem Gedanken,
daß jedermann leben kann nach eigenem Belieben, soweit nicht Gesetz
und Rechte anderer entgegenstehen. Mit demselben Recht wie im
Art. 9 das Eigentum, hätte in Art. 5 die Freiheit für „unverletzlich“
erklärt, oder, umgekehrt, in Art. 9 statt „ist unverletzlich“ gesagt werden
können „ist gewährleistet". Die beiden Ausdrücke sind gleichbedeutend;
weder der eine noch der andere, weder die „Gewährleistung“ noch
das Prädikat der „Unverletzlichkeit“ proklamieren die Unbeschränktheit,
die Souveränetät des Individuums, beide aber besagen, daß das Indi-
viduum alles tun darf, was ihm Gesetz und Recht nicht verbieten.
Oder, vom Standpunkte dessen betrachtet, der nicht von seiner Freiheit
Gebrauch machen, sondern fremde Freiheit beschränken will: wer in
die Freiheits= und Eigentumssphäre eines andern eindringen
will, muß ein Recht dazu haben. Von diesem Erfordernis ist
die Staatsgewalt nicht ausgenommen: dies ist die Kernbedeutung
sowohl des Art. 5 wie des Art. 9 Satz 1.
Wenn, wie oben (Art. 5 S. 134) bemerkt, das Freiheitsprinzip des
Art. 5 bereits im ALR (Einl. § 87) steht, so ist dem hinzuzufügen, daß
es auch an dem sachenrechtlichen Seitenstück hierzu, an der Garantie
des Eigentums, im A#s nicht fehlt: es ist I. 8 ALR F 32, lautend:
„In allen Fällen aber können Einschränkungen des Eigentums, welche nicht
aus besonderen, wohlerworbenen Rechten eines andern entspringen, nur
durch Gesetze begründet werden“ (über die Bedeutung dieser Bestimmung
und des § 87 Einl. z. A## vgl. Anschütz, Gegenw. Theor. 129). Während
heute der privatrechtlichen Seite des Eigentumsprinzips durch BG
5# 9003 („Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder
Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren
und andere von jeder Einwirkung ausschließen“) erschöpfend Ausdruck
gegeben ist, bilden Verfassungsvorschriften wie Art. 9 Satz 1 die Grund-
lage einer entsprechenden Definition und Sicherung des Privateigentums
im Gebiete des öffentlichen Rechts. Art. 9 Satz 1 ist die öffentlichrechtliche,
insbesondere verwaltungsrechtliche Ergänzung zu BG B 5K 903. Der Eigen-
tümer darf mit seinem Gut auch der Verwaltung gegenüber „nach
Belieben verfahren“, aber dieses Recht hört da auf, wo das Gegenrecht
der Verwaltung anfängt.
Die Verwaltung muß, wenn sie in das Privateigentum und seine
Ausübung, sei es verbietend, sei es gebietend, eingreifen will, ein Recht
hierzu haben. Geht man nun von dem Grundsatze aus, daß alle Rechte,
auch die, welche der Verwaltung gegenüber Freiheit und Eigentum der
einzelnen zustehen, nur im Gesetz ihre Quelle finden können (wobei die