Artikel 9. Gesetzliche Eigentumsbeschränkungen. 161
Möglichkeit von Gewohnheitsrechtsbildungen auf diesem Gebiet (vgl.
oben 141 und unten 163). Vorkonstitutionelle Rechtsnormen, welche
administrative Eingriffe in das Eigentum zulassen, bleiben mit der
Bedeutung und Kraft formeller Gesetze, d. h. so lange bestehen, bis sie
durch ein formelles Gesetz abgeändert oder aufgehoben werden. In allen
diesen Beziehungen erscheint Art. 9 Satz 1 als Seitenstück zu Art. 5: was
letzterer für die persönliche Freiheit, bedeutet ersterer für das Eigentum
der Untertanen: die Gewähr gesetzmäßiger Verwaltung. Was bei Art 5
S. 140 bemerkt wurde, gilt durchweg auch hier, für das Verhältnis
der Verwaltung zum Privateigentum.
Nur gegen die verwaltende Staatstätigkeit richtet sich, wie dies
auch aus der Entstehungsgeschichte (oben 154) mit aller Deutlichkeit
hervorgeht, der Artikel, — nicht gegen die Gesetzgebung. Garantien
wie Art. 5 und 9 Satz 1 sind nicht so zu verstehen, daß sie auch noch
der gesetzgebenden Gewalt gegenüber wirksam sein sollen: dieser gegen-
über ist die persönliche Freiheit durch Art. 5 nicht gewährleistet, noch
das Eigentum durch Art. 9 Satz 1 für unverletzlich erklärt. Vom Stand-
punkt der beiden Artikel aus erscheint die Legislative als eine vollkommen
souveräne Gewalt, welcher die Verfassung hier gar nichts verbietet, während
sie der Verwaltung nur solche Einwirkungen und Eingriffe gestattet,
welche auf gesetzliche Grundlage sich stützen können. Unter keinen Um-
ständen kann daher ein Gesetz, und griffe es noch so tief und schroff
in die private Vermögenssphäre ein, im Hinblick auf den Satz „das
Eigentum ist unverletzlich“, für unzulässig oder ungültig erklärt werden.
Für den Gesetzgeber ist das Eigentum nicht unverletzlich.
Vgl. auch oben S. 94, 96, 136, Schwartz zu Art. 9 Anm. 4A, sowie
v. Seydel, bayer. StR 2 371, Anschütz im Väerch 5 12 ff. AM.: Strantz
in der DJZ 1907 1361, dessen Versuch, die Unvereinbarkeit des Gesetzes
zur Stärkung des Deutschtums vom 20. März 1908 (GS 29) mit Art. 9
nachzuweisen, als ebenso mißlungen zu bezeichnen ist wie jene andern,
außer auf Art. 9 auch auf Art. 4 gestützten Angriffe gegen dieses Gesetz
und gegen frühere Akte der nationalpolitischen Gesetzgebung. Vgl. oben
bei Art. 4 S. 113; die dort angegebenen Kommissions- und Plenar-
beratungen über die Verfassungsmäßigkeit des G. vom 20. März 1908
erstreckten sich außer auf Art. 4 auch auf Art. 9 und endigten, wie er-
wähnt, mit der Ablehnung des Antrags, das in Rede stehende Gesetz als
Verfassungsänderung zu behandeln. Vollkommen zutreffend äußert sich
auch das OG (49 388) über den angeblichen Widerspruch des Ansiedelungs-
gesetzes vom 10. August 1904, § 138, mit Art. 9 und weist hierbei ins-
besondere mit Recht darauf hin, daß die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit
Anschütz, Preuß. Verfassungs-Urkunde. I. Band. 11