Artikel 9 Satz 2 nur Direktive für die Gesetzgebung. 167
Beide, und zwar Rehm mit größerer Entschiedenheit als Bier-
mann, wollen in dem Satze eine Norm erblicken, welche zu unmittel-
barer Anwendung durch den Richter geeignet und bestimmt ist, auf welche
also Klage und Urteil im Streitverfahren sich gründen können. Diese
Auffassung verkennt Art und Maß der Geltungskraft des Satzes. Letzterem
sehlt zwar nicht die Rechtssatzeigenschaft; ein bloßer „Lehrsatz“, wie
Rosin, Pol VR 143 Nr. 9 meint, ist er nicht (s. u. S. 168), — aber das
Recht, welches es setzt, gilt nicht der Partei und dem Richter, sondern
dem Gesetzgeber. Art. 9 Satz 2 ist, wie man es meist formuliert,
Direktive für die Gesetzgebung. Er ist in diesem Sinne (für Partei
und Richter) nicht ein schon gegebenes, sondern Programm und Richtschnur
für ein erst zu gebendes Gesetz. So die herrschende Meinung: Rosin,
Pol VR a. a. O. und 149 Nr. 5, Anschütz im VüArch 5 83, Oppenhoff,
Ressortverhältnisse (2. Aufl.) 56 Nr. 131; 335, 336 Nr. 121, Arndt, Komm.
103 ff., Fleischmann in Egers Ztschr. f. Eisenbahnw. 20 295 Nr. 25; Rö#
Zivils. 26 340, 45 253, 58 135, 64 186.
Die Richtigkeit dieser Auffassung ergibt sich schon aus der gram-
matischen Betrachtung des Satzes. Die Worte „nach Maßgabe des Ge-
setzes“ beziehen sich nicht, wie Rehm a. a. O. 97, gegen die vom R
(26 340, 45 253) und mir (a. a. O. 83) vertretene Ansicht polemisierend,
meint, nur auf „entzogen oder beschränkt werden“, sondem auch auf
den übrigen Inhalt des Satzes, insbesondere auf „Entschädigung“ —
sie stellen also sowohl den Enteignungsanspruch der Verwaltung (was
schon aus Satz 1 folgt) bzw. des Unternehmers (Enteigners), als auch
den Entschädigungsanspruch des Enteigneten unter den Vorbehalt des
Gesetzes. Das „nach Maßgabe des Gesetzes“ bedeutet in Verbindung mit
dem übrigen Satzgefüge, daß ohne „Gesetz“ die Verwaltung nicht
enteignen, aber auch die Partei keine Entschädigung fordern
und der Richter ihr solche nicht zusprechen darf. Satz 2 ist
demnach für den Richter niemals anwendbar, auch nicht — wie Biermann
a. a. O. 184 meint — subsidiär, „wo nicht besondere gesetzliche Bestim-
mungen über die Entschädigung gelten“. Wenn solche „gesetzlichen Be-
stimmungen“ fehlen, kann die Entschädigung vom Gericht nicht bewilligt,
sondern muß verweigert werden. Der Richter darf sich nicht an die
Stelle der Legislative setzen.
9. Das Wort „Gesetz“ im Sinne des zweiten Satzes ist so zu ver-
stehen wie oben S. 162, 163 und zu Art. 5 S. 140ff.; „Gesetz“ ist das ein-
schlägige, in Preußen geltende Recht, der Inbegriff aller geschriebenen
und ungeschriebenen Rechtsnormen über die Schadloshaltung des Enteig-
neten. Das „nach Maßgabe des Gesetzes“ ist demnach Verweisung und