168 Artikel 9 Satz 2 ist Direktive für die Gesetzgebung.
Verheißung. Verweisung: es wird Bezug genommen auf die Rechts-
normen jenes Inhalts, die bestehenden wie die künftig zu erlassenden,
und zwar auf die bestehenden, ohne an ihnen etwas materiell zu ändern.
Das bei Emanation der Verfassung geltende Enteignungsrecht, z. B.
ALR 18, §§ 29ff., I 11, § 4ff., auch, soweit er sich auf den Entschädigungs-
anspruch des Enteigneten bezieht, ALR Einl. § 75 (vgl. Anschütz, VArch
5 67 ff., 84 ff.), ist durch Art. 9 Satz 2 nicht aufgehoben oder ersetzt,
sondern aufrechterhalten worden (A#u Rehm a. a. O. 98, dem hierin in
der Literatur niemand zustimmt und die Praxis nicht folgt). Ver-
heißung: es wird eine formellgesetzliche Neuregelung des Enteignungs-
rechts, ein „Enteignungsgesetz“ in diesem Sinne (vgl. die Bemerkung des
Justizministers Simons, oben Nr. 1 S. 155) in Aussicht gestellt. Diese
Verheißung enthält zugleich eine Direktive: bei Regelung des Enteignungs-
rechts soll darauf Bedacht genommen werden, daß die Enteignung
überall nur „aus Gründen des öffentlichen Wohles“ erfolgt und daß
dem Enteigneten eine „vorgängige, in dringenden Fällen wenigstens
vorläufig festzustellende Entschädigung“ gewährt wird. Eine „vorgängige"
Entschädigung ist eine solche, die nicht zwar schon vor oder bei Einleitung
des Enteignungsverfahrens, wohl aber vor Abschluß desselben, vor dem
Vollzug der Enteignung, fällig und zahlbar ist: Besitz und Genuß der
zu enteignenden Gegenstände sollen dem Eigentümer im Enteignungs-
verfahren nicht eher entzogen werden als er den rechtskräftig und end-
gültig (oder, „in dringenden Fällen", wenigstens „vorläufig“) festgestellten
Betrag der Entschädigung erhalten hat (vgl. die Motive der Komm. d.
Nat Vers, oben 153). Diese Richtschnur ist, wie bereits bemerkt (Nr. 8
S. 167), als rechtliche Bindung gemeint; die rechtliche Wirkung besteht
darin, daß der Gesetzgeber, wenn er Enteignungsrecht und Enteignungs-
verfahren anders als im Art. 9 Satz 2 vorgezeichnet, regeln will, den
Weg der Verfassungsänderung (Art. 107) beschreiten muß. Freilich ist,
wie in analogen Fällen so auch hier, die Frage, ob ein Gesetzgebungs-
akt das Verfassungsänderungsverfahren involviert oder nicht, immer nur
eine Frage zwischen den gesetzgebenden Faktoren unter sich, nie eine
solche zwischen Gesetzgeber und Untertan, welche letztere der Richter zu
entscheiden hätte. Niemals dürfte, nach feststehenden Grundsätzen (vol.
oben 111, 112 und unten bei Art. 106 und 107), der Richter einem
rechtsförmlich publizierten Enteignungsgesetz deshalb die Anwendung ver-
sagen, weil es nach seiner Ansicht von den Direktiven des zweiten Satzes
abweicht. —
Das im zweiten Satze gegebene Versprechen gesetzlicher Regelung
des Enteignungswesens ist in der Hauptsache eingelöst worden durch