Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

190 Artikel 12. Inhalt des Artikels im allgemeinen. 
bekenntnis einzuschränken, in beiden Revisionskammern abgelehnt wurden 
(Antrag v. Daniels, I. K. 959, desgl. v. Kleist-Retzow, II. K. 1140). 
3. Der Inhalt des Art. 12 im allgemeinen. — Der Artikel 
erscheint, geschichtlich betrachtet, als letzter Schritt auf dem Wege zur 
Glaubensfreiheit. Er erkennt bestätigend an, was der absolute Staat 
(oben S. 184 ff.) schon gewährt hatte: die individuelle Bekenntnisfreiheit, 
und gibt, was jener noch nicht gegeben hatte: die Freiheit der religiösen 
Assoziation, die Kultusfreiheit und die Unabhängigkeit der bürgerlichen 
und politischen Rechte von dem Glaubensbekenntnis. Er gewährleistet 
erstens: „die Freiheit des religiösen Bekenntnisses“ (die Gewissens- 
und Glaubensfreiheit als integrierenden Bestandteil der persönlichen 
Freiheit des Individuums), zweitens „die Freiheit der Vereinigung 
zu Religionsgesellschaften“ (die religiöse Assoziationsfreiheit) in 
demselben Maße, als (Bedeutung des Allegats des Art. 301) Ver- 
einigungsfreiheit überhaupt gewährt ist, drittens „die Freiheit der ge- 
meinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung“, d. h. 
die Kultusfreiheit der Familien und Religionsgesellschaften, der Art, 
daß das exercitium religionis publicum, früher ein ausschließliches 
Vorrecht der öffentlich aufgenommenen Kirchen, nunmehr als allge- 
meines, sämtlichen Religionsgesellschaften von selbst und unterschiedslos 
zustehendes Grundrecht erscheint. Die im dritten Satze genannte 
„Religionsfreiheit“ bedeutet diesen drei Einzelfreiheiten gegenüber nicht 
ein selbständiges, viertes religiöses Grundrecht, sondern nur die Zu- 
sammenfassung der drei, mitsamt ihren Konsequenzen, von denen die 
wichtigste: die Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen 
Rechte von dem religiösen Bekenntnis, als solche durch Satz 2 aus- 
drücklich bezeichnet ist. Dieser Sinn des Wortes „Religionsfreiheit" 
(— Bekenntnis-- — Assoziations-= + Kultusfreiheit) wird namentlich 
dadurch klargestellt, daß der Satz „den bürgerlichen und staatsbürger- 
lichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein 
Abbruch geschehen“ an den Schluß des Artikels gesetzt ist. Man wollte 
damit (vgl. auch vK 2 172 Anm. 3) sagen, daß die Unabbrüchlichkeit 
der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten sich auf alle im ersten 
Satze gewährleisteten religiösen Grundrechte beziehe und wählte für 
die Gesamtheit dieser Grundrechte die Kollektivbezeichnung „Religions- 
freiheit". Dieselbe Bedeutung hat der Aueèdruck „Religionsfreiheit“ im 
Art. 14 (s. unten 280, 281). 
Sämtliche drei Sätze des Artikels sind nicht bloße Gesetzgebungs- 
direktive, sondern Gesetz im strengsten Sinne: aktuell geltendes, anwend- 
bares und anwendungspflichtiges, zwingendes, nicht nachgiebiges Recht mit
	        
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