Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

212 Artikel 12. Parität der Individuen, nicht der Religionsgesellschaften. 
Pflichten gegenüber dem Staat nicht ausschließt, wurde bereits betont 
(oben S. 209). Es ist hierauf noch weiterhin zurückzukommen, vgl. unten 
226 ff., sowie bei Art. 13 S. 246 (Religionsgesellschaften mit Korporations- 
rechten), Art. 14 S. 265, 266, Art. 15 S. 306, 315 (Landeskirchen). Die 
durch Art. 12 garantierte Assoziationsfreiheit bedeutet Freiheit vom Staat, 
nicht aber Gleichheit der Religionsgesellschaften unter sich und im Ver- 
hältnis zum Staat; es gilt — nach Satz 2 des Artikels und dem BG 
betr. die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staats- 
bürgerlicher Beziehung vom 3. Juli 1869 (s. unten S. 226ff.) — un- 
bedingte Parität der Individuen, nicht aber Parität der Reli- 
gionsgesellschaften als solcher. Anders gewendet: auf Grund des 
Art. 12 hat die Sekte das Recht, zu verlangen, daß der Staat und seine 
Polizei sie ungestört gewähren lassen, nicht aber hat sie einen Anspruch 
auf die Rechte und Vorzüge der Landeskirchen. Der Satz der Grundrechte 
des Deutschen Volkes (RV von 1849, § 147 Abs. 2): „Keine Religions- 
gesellschaft genießt vor anderen Vorrechte durch den Staat“ ist weder 
von der Verfassung (richtig hervorgehoben in OWG 43 168, vgl. auch 
unten, Art. 15 S. 306), noch von der Reichsgesetzgebung — G. vom 
3. Juli 1869 (vgl. unten S. 227) — ausgenommen worden. 
Nur in einem Punkte stellt die Verfassung alle Religionsgesell- 
schaften ausnahmslos einander gleich: in bezug auf die Kultusrechte. 
Jede Religionsgesellschaft hat gemäß Art. 12 das Recht und die Frei- 
heit der „gemeinsamen öffentlichen Religionsübung“". 
6. Die Freiheit der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen 
Religionsübung. — Die hiermit gewährleisteten beiden Seiten der 
Kultusfreiheit (s. oben S. 190) tragen alte Namen und sind auch 
sachlich gleichbedeutend mit denjenigen Kultusrechten, deren Gegenstände 
ehedem, insbesondere in der Zeit nach dem Westfälischen Frieden als 
devotio domestica und exercitium religionis publicum bezeichnet wurden 
(vgl. S. 184 ff. und die dort (187) angegebene Literatur). Die devotio 
domestica (häusliche Religionsübung, Hausgottesdienst) bezeichnete die 
niederste, das exercitium religionis publicum die höchste Stufe der 
Kultusfreiheit. Erstere galt als Ausfluß und Bestandteil der individu- 
ellen Bekenntnisfreiheit, war also stillschweigend mitgewährt, soweit 
diese gewährt war (so auch der Standpunkt des AL, vgl. oben S. 184); 
das exercitium religionis publicum, d. h. die in Kultuseinrichtungen 
mit den üblichen Zeichen der Offentlichkeit sich betätigende Religions- 
übung war überall ein ausschließliches Vorrecht der ecclesiae receptae, 
der Landeskirchen. Die Spaltung des Begriffes der devotio domestica 
in die devotio domestica simplex und qualificata — nur bei letzteren
	        
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