Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Artikel 12. Kultusfreiheit. Offentliche Religionsübung. 215 
jeder Religionsgesellschaft (Art. 15) überlassen, mit der aus Art. 12 
Satz 3 hervorgehenden und im kbrigen selbstverständlichen Maßgabe, 
daß diese Autonomie die Schranken der Staatsgesetze zu beachten hat 
und insbesondere bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten keinen 
Abbruch tun darf (s. unten S. 228ff.). 
Die Freiheit öffentlicher Religionsübung ist, wie erwähnt (oben 
S. 213, vgl. auch unten 228) ein Gesamt-, kein Individualrecht, die „öffent- 
liche" Ubung ist stets gedacht als eine gemeinsame. Das Wesen der 
„Offentlichkeit“ besteht mithin nicht darin, daß jedermann seine Religion 
nach Belieben im stillen Kämmerlein oder auf öffentlicher Straße aus- 
üben darf. Wer von diesen beiden Möglichkeiten und Ortlichkeiten die 
zweite der ersten vorzieht, mag dies tun (auf die Gefahr hin, als 
Verursacher eines verkehrsstörenden Menschenauflaufs von der Polizei 
festgenommen zu werden und so zu erfahren, daß die Religionsfreiheit 
nicht das Recht gibt, ordnungswidrige Zustände herbeizuführen), macht 
aber alsdann nicht von dem „Recht öffentlicher Religionsübung“, welches 
nicht ihm, sondern seiner Kirche zusteht, aber von seiner individuellen 
Bekenntnisfreiheit (loben S. 191 f.) Gebrauch. 
Das Prinzip der Freiheit öffentlicher Religionsübung berechtigt 
also nur die Religionsgesellschaften als solche. Es gibt ihnen die Be- 
fugnis, ihren Kultus in bezug auf Einrichtungen und Formen nach 
Gutdünken und insbesondere so zu gestalten, wie ihn ehemals, kraft 
ihrer auch in dieser kulturellen Hinsicht privilegierten Stellung, nur 
die öffentlich ausgenommenen Religionsgesellschaften, die Landes- 
kirchen, gestalten durften. Nicht alle sonstigen Vorrechte, wohl aber 
allerdings die Kultusvorrechte der Landeskirchen sind als solche, als 
Vorrechte, durch Art. 12 beseitigt: auch die kleinste Sekte kann ihrem 
Gottesdienst das Gepräge und die Merkmale der „Offentlichkeit“ ver- 
leihen. Was zu diesen Merkmalen gehört, läßt sich nur historisch fest- 
stellen. Man rechnet dahin: die Ausstattung der gottesdienstlichen Ge- 
bäude mit Türmen und Glocken (Richter-Dove-Kahl a. a. O. 322, 
Fürstenau 79, v. Bonin, lus reformandi 89, Schoen im Vorch 6 181 
und Evangel. Kirchenr. 1 168), auch wohl den unmittelbaren Zu- und 
Ausgang dieser Gebäude von der Straße aus (Fürstenau 136). Es 
sind äußere Zeichen der Befugnis, innerhalb und außerhalb der Kultus- 
gebäude öffentliche Gottesdienste und sonstige religiöse Feierlichkeiten 
zu veranstalten, an denen von Staats wegen jeder (also auch wer der 
betreffenden Religionsgesellschaft nicht angehört) teilnehmen darf, wer will 
(vgl. v. Bonin a. a. O. 85 ff). Alle die vorbezeichneten Rechte sind heute 
nicht mehr auf die Landeskirchen beschränkt, jede Religionsgesell-
	        
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