220 Artikel 12. Bürgerliche Gleichberechtigung der Konfessionen.
Der den beiden Sätzen gemeinsame Grundgedanke ist der, daß
diese Rechtsordnung und ihr Träger, der Staat, eine wie immer geartete
Stellung zu „Gott und göttlichen Dingen“ (ôAM## II 11 #§ 1) weder mit
Vorteilen noch mit Nachteilen verbinden dürfen. Die Stellung des
Menschen zur Religion, die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu
einer Religionsgesellschaft sind bürgerlich und staatsbürgerlich unerhebliche
und insoweit rechtlich gleichgültige Tatsachen. Der Staat mißt weder
die Rechte noch die Pflichten seiner Untertanen nach der Gläubigkeit
oder Ungläubigkeit ab.
Hier handelt es sich zuvörderst um Satz 2. Man hat diesen
Satz für überflüssig erklären wollen, da das, was er sagt, schon durch
andere Bestimmungen der Verfassung ausgedrückt sei. So: RZ 2 8, der
hier nur einen Anwendungsfall des Prinzips der Rechtsgleichheit, Art. 4,
erblicken will, und Fürstenau 197, welcher meint, daß die Freiheit des
Bekenntnisses, also Satz 1, „begrifflich schon die Unabhängigkeit der bürger-
lichen und staatsbürgerlichen Rechte vom Bekenntnisse in sich schließt".
Gegen die erste dieser beiden Ansichten ist bereits oben bei Art. 4,
S. 114, bemerkt worden, daß die Glaubensgemeinschaften (Konfessionen)
keine Stände im Sinne des die rechtlichen Standesunterschiede, sonst
nichts, beseitigenden Art. 4 sind. Fürstenau hat a. a. O. de lege fe-
renda gewiß recht: Religionsfreiheit ohne volle bürgerlich-staatsbürger-
liche Parität aller Gläubigen und Glaubenslosen ist in Wahrheit keine
Religionsfreiheit, oder, um mit Kahl (Lehrsystem 302) zu reden: „Das
Gewissen ist auch dann nicht frei, wenn bloß eine geringere Fähig-
keit im Genusse der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte mit
einem bestimmten Bekenntnisstande oder dem Mangel eines solchen
verbunden ist“". Insoweit kann man sagen, daß Satz 2 nur eine Kon-
sequenz, richtiger eine Forderung enthalte, welche sich aus dem Grund-
satz der Religionsfreiheit, Satz 1, ergibt. Indessen ist, wie bekonnt,
diese Folgerung und Forderung von dem positiven Recht nicht immer
und überall in dem wünschenswerten Maße gezogen bzw. erfüllt worden,
wie denn vor 1848 in allen deutschen Staaten und, was die Juden
anbetrifft, auch in Preußen, wohl die Freiheit, nicht aber die bürger-
liche Gleichberechtigung der Bekenntnisse anerkannt war (s. oben S. 186,
187). Es ist also auch eine enge, illiberale Auslegung des Grundsatzes der
Religionsfreiheit denkbar und als Zeichen dessen, daß die Verfassung
diese Auslegung nicht will, sondern verwirft, erscheint Satz 2 nicht
überflüssig.
Wie die anderen Sätze des Artikels, so stellt auch dieser volllommen
aktuelles Recht dar. Er ist nicht Wunsch, sondern Wille. Kein bloßes