Artitel 12. Paritat der Individuen, nicht der Religionsgesellschaften. 227
ersteren, nicht auch den letzteren gegenüber ist das ius reformandi auf-
gehoben. Jeder Glaubenszwang gegen den einzelnen Menschen, auch
und insbesondere der indirekt, durch Versagung bürgerlicher und politischer
Rechte bewirkte, ist durch Art. 12 und nunmehr durch das Gesetz von 1869,
rechtlich unmöglich gemacht, dagegen ist das ius reformandi als Bestand-
teil und Ausfluß der staatlichen Vereins= und Korporationshoheit
sowohl in seiner prohibitiven („ ius reproband “) wie in seiner permissiven
und privilegierenden Seite („ius tolerandi et recipiend“) durch das Gesetz.
von 1869 nicht berührt worden. Über das Verhältnis des Staates zu
der religiösen Gemeinschaftsbildung und deren Erzeugnissen, den Reli-
gionsgesellschaften bestimmt das Gesetz von 1869 nichts und hat es nichts.
bestimmen wollen (vgl. die von Fürstenau 244 Anm. 2 angeführten Reichs-
tagsverhandlungen), noch können, da die Gesetzgebung des Norddeutschen
Bundes, welche das Gesetz erlassen hat, hierfür gar nicht zuständig war,
wie denn auch heute noch die Regelung der Verhältnisse der Religions-
gesellschaften anerkanntermaßen (Haenel, Staatsrecht 1 610 ff., Seydel,
Komm. z. RV 111 ff.) Gegenstand nicht der Reichs-, sondern der Landes-
gesetzgebung ist und die landesrechtlichen Vorschriften über kirchliche und
religiöse Vereine und Versammlungen folgerichtigerweise von dem RVG
vom 19. April 1908, § 24, unberührt gelassen sind. Demnach hat die
Landesgesetzgebung in bezug auf die hier berührte Materie, die Ab-
stufung der Privat= und öffentlichen Rechte, einschließlich der Kultus-
rechte, der Religionsgesellschaften von Reichs wegen, insbesondere nach
dem Gesetz von 1869, freie Hand; es steht bei ihr, die Freiheit der
religiösen Gemeinschaftsbildung zu gewähren — wie dies in Preußen
durch Art. 12 Satz 1 (s. oben S. 197 ff.) geschehen —, oder zu ver-
sagen, d. h. die Bildung von Religionsgesellschaften außerhalb der Landes-
kirche entweder überhaupt zu verbieten oder von staatlicher Zulassung
von Fall zu Fall abhängig zu machen (so in Bayern, vgl. Seydel,
Bayer. St R 3 490 ff.), den Staat zu einer Religionsgesellschaft, der
Landeskirche, in ein besonders nahes, für dieselbe vorteilhaftes Ver-
hältnis zu setzen, zu den andern Religionsgesellschaften aber nicht, der
einen Religionsgesellschaft die Korporationseigenschaft, Autonomie, Be-
steuerungsrechte, Disziplinargewalt zu verleihen, der andern nicht, der
einen das Recht der öffentlichen Religionsübung zu gewähren, der
andern nicht.
Ubereinstimmend die herrsch. M., val. Hinschius, Staat und Kirche
359, 360 Anm. 5, Richter-Dove-Kahl, Kirchenrecht 319, 320, Kahl,
Lehrsystem 322 ff., Fürstenau 244, Meyer--Anschütz 850. Bal. auch
oben S. 209, 212 und unten 246, 265 ff., 306.
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