228 Artikel 12. Parität der Individuen, nicht der Religionsgesellschaften.
Nach den vorstehend entwickelten Gesichtspunkten ist die Frage,
inwieweit die durch das Gesetz von 1869 proklamierte Gleichheit im Genuß
der bürgerlichen Rechte sich auf das Recht der Religionsfreiheit er-
streckt, dahin zu beantworten: soweit die Religionsfreiheit ein „bürger-
liches Recht“ ist, bezieht das Gesetz von 1869 sich auf sie, soweit nicht,
nicht. Die Religionsfreiheit ist aber ein „bürgerliches Recht“ nur als
Freiheitsrecht der Individuen, nicht als Freiheitsrecht der Reli-
gionsgesellschaften (vgl. oben S. 213). Die Bekenntnisfreiheit
ist, und zwar in allen ihren Außerungen und Konsequenzen, Individual-
recht, also bürgerliches Recht im Sinne des Gesetzes von 1869; die Kultus-
freiheit ist dieses nur in ihrer bescheidensten Gestalt, als Recht der Haus-
andacht (oben S. 213, 214), während sie in ihrer Eigenschaft als Befugnis
zur gemeinsamen, insbesondere „öffentlichen“ Religionsübung nicht ein In-
dividual--, sondern ein Verbandsrecht (vgl. oben S. 213, 215), mithin
kein „bürgerliches“ Recht darstellt. Daraus folgt, daß nach dem Gesetz
von 1869 das Grundrecht der individuellen Bekenntnisfreiheit einschließlich
des Rechts auf devotio domestica (auch „qualificata“: Kahl Lehr-
system 323) gemeinrechtlich im ganzen Reich gilt und kein deutscher Staat
irgendwem dieses Recht verkürzen darf, andererseits aber kein deutscher
Staat genötigt ist, allen Religionsgesellschaften als solchen das volle
Ausmaß der Kultusrechte, das exercitium religionis publicum zu
gewähren. Preußen gibt, solches gewährend (vgl. oben S. 215, 216),
mehr als es von Reichs wegen, nach dem Gesetz von 1869 zu geben
verpflichtet ist (unrichtig v. Bonin, ius reformandi 111).
Altere Landesgesetze und Verordnungen, welche mit dem Gesetz von
1869 in Widerspruch stehen, sind hierdurch aufgehoben, neuere nichtig.
Ob ein solcher Widerspruchsfall vorliegt, ist stets (auch bei neueren Ge-
setzen) vom Richter zu prüfen. Art. 106 Abs. 2 findet keine Anwendung.
8. Das Berhältnis der Religionsfreiheit zu den bürgerlichen
und staatsbürgerlichen Pflichten ist, nach Satz 3 des Artikels, das
der einfachen Unterordnung der ersteren unter die letzteren. Es ist
dies ein notwendiges Korrelat zu der bisher (S. 219ff.) erörterten Un-
abhängigkeit der bürgerlichen und politischen Rechte von dem religiösen
Bekenntnis. Die Begriffe, welche „der Einwohner des Staates“ „von
Gott und göttlichen Dingen“ hat oder auch nicht hat, sollen ihm nach
der Rechtsordnung des Staates als Menschen wie als Bürger weder
Schaden noch Nutzen bringen: auch den Vorteil nicht, mindere Pflichten
zu haben als andere. „Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen
Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein
Abbruch geschehen.“