Artilel 12. Religionsfreiheit und Bürgerpflicht. 229
Die erste aller Bürgerpflichten ist der strikte Gehorsam gegen die
Gesetze. Von dieser Pflicht entbindet kein Religionsgebot noch irgend eine
religiöse (so wenig wie eine andere, z. B. wissenschaftliche oder politische)
Überzeugung. Diesen Grundsatz hatte schon das AL, II 11 88 27 -29,
ausgesprochen, freilich nicht ohne eine Einschränkung, welche mehr der
Duldsamkeit als der Staatsgesinnung der Verfasser des Gesetzbuchs zur
Ehre gereicht. An den §5 29 II 11 A#R, welcher „Ausnahmen von
gewissen Gesetzen“ wegen „Religionsmeinungen“ nur insoweit gestattet.
„als dergleichen Ausnahmen vom Staate ausdrücklich zugelassen“ sind,
reihen sich nämlich folgende Bestimmungen an: „JIst dieses (sc. die
ausdrückliche Zulassung einer Ausnahme) nicht geschehen, so kann zwar
der Anhänger einer solchen Religionsmeinung, etwas gegen seine
Überzeugung zu tun, nicht gezwungen werden.“ „Er muß aber
die nachteiligen Folgen, welche die Gesetze mit ihrer unterlassenen Be-
obachtung verbinden, sich gefallen lassen“ (§8 30, 31 II 11). Es bedarf
kaum des Hinweises, daß diese (übrigens schon durch das Patent vom
30. März 1847, GS 123 — dgl. oben S. 187 — nicht wieder mit-
publizierten) Sätze, „welche der bedenklichen Lehre vom leidenden
Gehorsam ein Zugeständnis machen“ (v. Seydel, Bayer. St R 3 483),
durch den hier erörterten Satz 3 des Artikels 12 aufgehoben sind.
Der auf religiöse Überzeugungen gestützte Ungehorsam gegen das
Staatsgebot ist in keiner Weise privilegiert, auch insofern nicht, als
wider ihn nur die Verhängung von Strafen und Rechtsnachteilen,
nicht auch Zwangsvollstreckung zulässig wäre. Er kann gebrochen werden
wie jeder andere Widerstand gegen gesetzlich gerechtfertigte Anordnungen
des Staates, insbesondere im Wege der Verwaltungsexekution. Vgl.
auch Hinschius, Preußisches Kirchenrecht 17 N. 39.
Das durch Satz 3 ausgedrückte Verhältnis zwischen Glaubensfreiheit
und Bürgerpflicht würde unzweifelhaft auch dann zu Recht bestehen,
wenn Satz 3 nicht geschrieben stände. Denn es ergibt sich mit ein-
facher Folgerichtigkeit aus dem Wesen des modernen Staates und
seiner Souveränetät; es ist in diesem Sinne selbstverständlich. Die
Staatsgewalt ist allen in ihrem Herrschaftsbereich befindlichen Per-
sonen und Personenvereinigungen unbedingt übergeordnet, sie kann
die Verbindlichkeit und Unverbrüchlichkeit ihrer Gebote an keinem
Punkte abhängig machen von der Anerkennung ihrer Untertanen.
Die Gesetze des Staates und die auf Grund derselben ergehenden
Anordnungen binden auch den, der sie innerlich mißbilligt und ver-
wirft, gleichgültig, wie dieser Widerspruch begründet wird, ob mit
religiösen oder anderen Meinungen. Es ist dem Staatsbürger nicht