Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

280 Artikel 14. Christentum und Konfessionalismus. 
„Zu Grunde zu legen“, also Richtschnur für den Staat ist „die 
christliche Religion“, und zwar (dies ergibt sich nach der Entst Gesch 
als Sinn der Bestimmung, val. oben S. 263, 264), nicht in ihrer ge- 
schichtlich gegebenen konfessionellen Spaltung mit paritätischer Berück- 
sichtigung der Hauptkonfessionen, sondern in einer vom Gesetzgeber vor- 
ausgesetzten Einheitlichkeit, im Sinne eines allgemeinen, interkonfessio 
nellen (Kahl, Lehrsystem 302: „mittleren") Christentums. Was in diesem 
Sinne „christlich“ ist, bestimmt, ohne daß er verpflichtet wäre, die 
Meinung kirchlicher Organe und Autoritäten zu befolgen oder auch nur zu 
erfragen, der Staat. Damit ist dieser vor eine theologische Aufgabe ge- 
stellt, die seinem sonstigen, rein weltlichen Wesen fremd ist und deren 
Lösung, soweit sie angesichts der vorhandenen konfessionellen Gegensätze 
überhaupt möglich ist, die Staatsgewalt leicht in Konflikte bringen kann 
mit einer ihrer obersten Pflichten: der Neutralität in Glaubensstreitig- 
keiten. (Vgl. hierzu den oben S. 263 zit. Bericht der Rev#omm der II. K., 
ferner besonders die einleuchtenden Bemerkungen von Hinschius, Staat 
und Kirche 241, und Kahl, Lehrsystem 302.) Die Gefahr liegt nahe, daß 
der in der Rolle des Glaubensrichters auftretende „christliche Staat“ einen 
Satz für christlich erklärt, der entweder nur der einen oder der andern 
Landeskirche oder aber keiner genehm ist und dessen staatliche Durch- 
führung infolgedessen mindestens von einer der beiden Religionsparteien, 
wenn nicht von beiden, als Gewissenszwang empfunden wird. So ist 
z. B. gegen das gutgemeinte Karfreitags-Gesetz vom 2. September 1899 
(GS 161) von katholischer Seite Widerspruch erhoben worden, da die 
Auffassung des Karfreitags als Feiertag eine protestantische, keine 
katholische sei (vgl. auch die diesem Widerspruch Rechnung tragende 
Klausel im Abs. 2 des Gesetzes). Abgesehen von diesem vereinzelten 
Falle sind übrigens Versuche, die konfessionellen Unterschiede zu ver- 
wischen und angeblich allgemeinchristliche Sätze oder Anschauungen der 
Konfessionen wider ihren Willen aufzuzwingen, nicht unternommen 
worden. Insbesondere ist das Militär-Kirchenwesen und ebenso 
der öffentliche Religionsunterricht nicht allgemeinchristlich, sondern 
durchaus konfessionell geordnet (s. oben S. 273), eine Ordnung, 
die für den Religionsunterricht in der Volksschule durch Art. 24 Abf. 1, 
2 sogar ausdrücklich vorgeschrieben ist (vgl. unten bei Art. 24 S. 447 f..). 
Die „Zugrundelegung“ der christlichen Religion soll geschehen 
„unbeschadet der in Art. 12 gewährleisteten Religionsfreiheit“". Das 
Prinzip des Art. 14 ist mithin durch das des Art. 12 beschränkt, nicht 
umgekehrt; bei Kollision der beiden Normen hat die erstere zurückzu- 
stehen. Ein hierhergehöriger Fall ist bereits oben S. 270 besprochen
	        
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