Artikel 15. Kirchenpolitische Praxis 1860 - 1873. 287
als begründet erwiesen, und ebenso bewahrheiteten sich auch die Be-
sorgnisse anderer (vgl. Fischer, I. K. 1003, Fubel, II. K. 1111), daß
das neue, auf Art. 15 beruhende Staatskirchenrecht nur der katholischen,
nicht aber der evangelischen Kirche nützen, ersterer zuviel Freiheit vom
Staat, letzterer gar keine bringen werde.
In der Tat sind die Wirkungen der durch Art. 15 proklamierten
„Trennung von Staat und Kirche“ für die beiden Hauptkirchen ganz
verschieden gewesen.
Die katholische Kirche setzte sich sofort (vgl. die von dem Minister
v. Ladenberg, II. K. 1094, auffallend schwächlich bekämpfte Denkschrift
des preußischen Episkopats von 1849) durch ihre Bischöfe einseitig in
den Besitz der Freiheit und Macht, welche sie auf Grund der Art. 15,
16 und 18 beanspruchen zu dürfen glaubte. Sie faßte diese Artikel
als einfache Reaktivierung des kanonischen Rechts, die Stellung der
Kirche zum Staate nicht als Unterordnung, sondern als Gleichordnung
auf und hatte den Erfolg für sich, als sie sich jede aufsichtliche Ein-
mischung des Staates auch nur in ihre äußeren Angelegenheiten ver-
bat. Dagegen dauerte in der evangelischen Kirche, wenn nicht der
Form, so doch der Sache nach das alte Staatskirchentum fort. Während
die katholische Kirche gemäß Art. 15 ihre Angelegenheiten wahrhaft
„selbständig ordnete und verwaltete“, wurde die evangelische weiter
regiert durch ihren gekrönten „summus episcopus“, den Oberkirchen-
rat und die königlichen Konsistorien, und auch die Tätigkeit des Ober-
kirchenrats und der Konsistorien war keine freie, blieb vielmehr (könig-
licher Erlaß und Ressortreglement vom 29. Juni 1850, GS 343) be-
lastet mit einem weitgehenden Mitwirkungsrecht des Kultusministers.
Vgl. auch OVG 19 49, sowie Art. 21 des Gesetzes betr. die evangelische
Kirchenverfassung vom 3. Juni 1876, aus dem hervorgeht, daß bis
dahin ein gewisser Teil der „Verwaltung“ (so, nicht nur der Beauf-
sichtigung) der evangelischen Kirche noch von dem Minister der geistlichen
Angelegenheiten und den Regierungen, also den Staatsbehörden, ge-
handhabt worden war. Dieselbe Staatsregierung, welche in den
„Rechten der Preußen“ sonst so gern bloß platonische Grundsätze er-
blicken wollte (s. oben S. 95, 111, 167, 191), Direktiven, welche bis zum
Erlaß entsprechender Ausführungsgesetze niemand berechtigen noch binden,
— diese selbe Regierung erkannte nicht so sehr die Glaubensfreiheit des
Art. 12 (s. oben S. 191, 221), wohl aber die Kirchenfreiheit des Art. 15
als aktuell geltendes Recht — freilich nur als Recht der katholischen
Kirche — an und zwar mit einer Liberalität der Auslegung, wie sie
dem Willen des Gesetzgebers sicher nicht entsprach. Von einer näheren