Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

288 Artikel 15. Kirchenpolitische Praxis 1850—1873. 
gesetzlichen Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, 
von Ausführungsgesetzen zu Art. 15, wie sie in den „Erläuterungen“ 
zur oktr V, im Bericht des Zaussch (s. oben S. 285) und auch sonst 
mehrfach gefordert worden waren, war nicht mehr die Rede; ins- 
besondere blieben auch die auf praktische Durchführung der Selbständig- 
keit der evangelischen Kirche gerichteten Wünsche (vol. den von 
der II. K. beschlossenen transitorischen Artikel, oben S. 285 und 286) 
u erfüllt. 
Zur Illustration des Verhältnisses zwischen Staat und katholischer 
Kirche, wie es sich seit 1848 in Preußen gestaltet hatte, mag folgende 
Schilderung eines hervorragenden Sachkenners, eines Zeitgenossen und 
Teilnehmers der kirchenpolitischen Kämpfe der siebziger Jahre hier an- 
gereiht werden. · 
„Der Art. 15 der Verfassung, welcher der römisch-katholischen Kirche 
die selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten ge- 
währt, hatte zwar gesetzlich das Kirchenhoheitsrecht des Staates nicht 
beseitigt, tatsächlich war aber die Übung einer solchen so gut wie ganz 
aufgegeben worden. Man hatte es nach dem Inkrafttreten der Ver- 
fassung versäumt, den vieldeutigen Artikel durch Spezialgesetze auszu- 
führen. Dagegen beeilten sich die Bischöfe, indem sie ihrerseits die 
der selbständigen Regelung der Kirche überwiesenen Angelegenheiten 
feststellten und die Kirchenhoheit des Staates negierten, eine Kirchen- 
freiheit praktisch durchzuführen, welche dem römischen Ideal derselben 
in vielen Beziehungen entsprach. Die Regierung, statt diesen Be- 
strebungen energisch entgegenzutreten, konnivierte, und ein Recht des 
Staates nach dem andern wurde durch Ministerial-Reskripte aus den 
Händen gegeben. Insbesondere verzichtete man auf jeden Einfluß 
hinsichtlich der Bildung und der Erziehung der Geistlichkeit, auf jedes 
allgemeine Recht bei der Besetzung geistlicher Amter, auf jede Ausfsicht 
über die Handhabung der kirchlichen Straf= und Disziplinargewalt und 
jede nennenswerte Kontrolle der kirchlichen Vermögensverwaltung. So- 
weit die Regierung noch einzelne Rechte übte, geschah dies mehr vom 
Standpunkte eines der Kirche gehorsamen Dieners als von dem einer 
derselben in staatlicher Hinsicht übergeordneten Macht. Dieser Zustand 
— selbst bei einem mit der Kurie geschlossenen Konkordate hätte es 
für dieselbe nicht günstiger sein können — dauerte mehr als 20 Jahre. 
Er macht es nur zu erklärlich, daß es gelungen war, einem jeglichen 
nationalen Interesse fremden und ultramontan zugerichteten Klerus heran- 
zubilden, welcher noch abhängiger war von den Bischöfen, als diese ihrer- 
seits von der Kurie. — Um die ultramontanen Anschauungen zu verbreiten,
	        
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