Artikel 15. Deklaration und Aufhebung des Artikels. 289
wurde gleichzeitig die Vermehrung der Orden und Kongregationen und
ihre Niederlassungen, namentlich der der Jesuiten, deren Neubildung
bzw. Vermehrung die Staatsbehörden ebenfalls nicht entgegentraten,
quf jede Weise von den Bischöfen befördert. Vom Jahre 1855 waren
die 69 Niederlassungen mit 976 Mitgliedern bis zum Jahre 1867 auf
287 mit 6545 Mitgliedern (mit Ausschluß der 1866 erworbenen Pro-
vinzen) herangewachsen, und daß seitdem noch eine sehr starke Zunahme
stattgefunden hat, ergibt sich daraus, daß augenblicklich (1873) — ab-
gesehen von den Jesuiten und den ihnen für verwandt erklärten Kon-
gregationen — im preußischen Staat etwa 1000 Personen in ungefähr
78 Niederlassungen männlichen Orden und Kongregationen, und 7600
in ungefähr 816 Niederlassungen und Stationen weiblichen derartigen
Genossenschaften angehören. Dieses Heer wird zum Teil zur Aushilfe
in der Seelsorge, zu Missionen, zu Wallfahrtsgottesdiensten und zur
Leitung des Unterrichts verwendett.. Etnerseits ein zum Angriff
bereiter hoher Klerus, eine Schar von niederen Geistlichen, sowie von
Orden und Kongregationen zur Verfügung desselben und eine der
Herrschaft der Führer ergebene, in kirchlichen Vereinen und Brüder-
schaften besonders vorbereitete katholische Bevölkerung, andererseits die
Staatsregierung, durch die bisherige Praxis jedes wirksamen Abwehr-
mittels beraubt . . das war die Lage des preußischen Staates als sich
(nach dem vatikanischen Konzil von 1870) die ersten Symptome des be-
ginnenden Kampfes zeigten“ (Hinschius, Die preußischen Kirchengesetze
des Jahres 1873, VI, VII). —
Es ist ein Bild, welches, in treffender Ironisierung des Cavourschen
„libera chiesa in libero Stato“, bezeichnet worden ist als „die freie
Kirche im unfreien Staa"“.
III. Deklaration und Aufhebung (vgl. Hinschius, Die preußischen
Kirchengesetze von 1873 und Die preußischen Kirchengesetze der Jahre
1874 und 1875). — Der Staat, der einst die Kirche von sich befreit,
mußte sich jetzt von der Kirche befreien. Das aber hieß vor allem
die staatliche Kirchenhoheit freimachen von den Fesseln einer Ver-
fassungsauslegung, welche, mochte sie auch von Haus aus irrtümlich
sein, doch durch eine mehr als zwanzigjährige Betätigung in der Ver-
waltungspraxis eingealtert war und in den Augen des politischen
Katholizismus und seiner Führer den Wert einer Usualinterpretation be-
saß. Diese Auslegung (beredt verteidigt von Reichensperger und Windt-
horst im Hd Abg, 1872/73, 848 ff., 869 ff.), erblickte in dem Art. 15 ein
Verbot jeder besonderen, spezifischen Gestaltung und Entfaltung der staat-
lichen Aufsicht über die Kirche. Die einzig verfassungsmäßige Kirchen-
Anschütz, Preuß. Berfassungs-Urkunde. I. Band. 19