Artikel 15. Deklaration und Aufhebung des Artikels. 291
1872/73, 877) wie von den Mehrheiten beider Kammern einmütig gehegten
Rechtsüberzeugung, wonach Art. 15 die Gesetzgebungshoheit und Auf-
sichtsgewalt des Staates über die Kirche nicht beseitigt und also auch den
Erlaß von Gesetzen, durch welche die Kirche in dem der Legislative ange-
messen erscheinenden Maße staatsaufsichtlichen Beschränkungen unter-
worfen wird, nicht verbietet. In dem Bericht (Drucks. a. a. O. 604,
606) wird mit Nachdruck auf die den Art. 15 begründenden „Er-
läuterungen“ des Ministers v. Ladenberg (s. oben S. 283) hingewiesen.
Wenn dort von einem „negativen Recht"“ die Rede sei, „auf welches
der Staat gegenüber den Religionsgesellschaften niemals verzichten
kann, wenn er sich nicht selbst gefährden will“, so sei dies nichts
anderes als das im Staatsrecht technisch so genannte Oberaufsichtsrecht
(ius inspiciendi cavendi). Jene Erklärung der Staatsregierung bei
der ersten Einbringung bzw. Publikation des Verfassungsartikels sei das
entscheidende Moment für seine Auslegung. Ein Protest der Revisions-
kammern gegen die von der Regierung als selbstverständlich voraus-
gesetzte Deutung sei nicht erfolgt. Jede gutgläubige Interpretation
müsse daher den Art. 15 dahin auffassen, daß die Gesetzgebung und
das Oberaufsichtsrecht des Staates prinzipiell vorbehalten bleiben sollte.
Zu demselben Resultat führe die Wortfassung des Art. 15. Die Aus-
drücke „ordnen" und „verwalten“ bezeichnen keine souveräne Ge-
setzgebungsgewalt, sondern nur eine Ordnungsgewalt im eigenen Kreise.
„Selbständig" seien auch die Gemeinden und doch der Ausfsicht des
Staates nicht entrückt. Im vorliegenden Falle sei die „Selbständigkeit"
nicht nur den Landeskirchen, sondern jeder dissidentischen Religions-
gesellschaft nach gleichem Maßstabe und nach gleichem Recht beigelegt.
Wolle man auch jeder Dissidentengruppe eine die Staatsaufsicht aus-
schließende souveräne Gesetzgebungsgewalt zuschreiben? Die Praxis
der Behörden und die Verhandlungen des Landtags seien niemals zu
einer solchen Auffassung gelangt. Im Grunde bedürfe es also einer das
Staataussichtsrecht sichernden Deklaration der Verfassung nicht, indessen
sei eine solche im Hinblick auf die unbestimmte und abgerissene Fassung
des Art. 15 zur Beseitigung von Gewissensbedenken, namentlich auch
solcher, die den Eid auf die Verfassung zu leisten haben, dringend
ratsam (a. a. O. 604, 605). Der Vertreter der Staatsregierung (Unter-
staatssekretär Achenbach) stimmte dem vorbehaltlos bei und fügte noch
die beachtenswerte Erklärung hinzu, daß, wenn die vorliegende Ver-
fassungsdeklaration die Kirchen der „gesetzlich geordneten Aufsicht
des Staates“ unterwerfe, dies nicht dahin zu verstehen sei, daß die
Kirche einer solchen Aussicht nur dann unterworfen sein solle, wenn
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