294 Artikel 16. Unterordnung der Kirche unter den Staat.
vor „Staatsgesetzen“ wurde bei der Beratung des Gesetzes vom
5. April 1873 schon von der Komm des Hdbg auf Wunsch der Staats-
regierung gestrichen, vgl. den oben 282, 290ff. angeführten Komm Ber
607; damit erledigen sich die Bedenken des Abgeordneten Reichensperger,
oben 290.) Es ist also der Erlaß nicht nur von „allgemeinen“,
sondern auch von „besonderen“, die Freiheit der Kirche beschränkenden
Gesetzen nicht verboten, vielmehr — und zwar nicht erst seit der Dekla-
ration, sondern vom Inkrafttreten der Verfassung an (s. oben S. 291, 292:
„rückwirkende Kraft“) — erlaubt. Altere Gesetze dieses Inhalts gelten, so-
weit sie mit dem Prinzip der kirchlichen „Selbständigkeit“ vereinbar und
nicht durch neuere Gesetze abgeändert worden sind, weiter (val. hierzu
insbesondere die Außerung des Unterstaatssekretärs Achenbach, oben
S. 291, 292). Es ist bei den Verhandlungen über das Gesetz vom
5. April 1873 wie auch in der Literatur (vgl. oben S. 292) oft und mit
Recht darauf hingewiesen worden, daß das Gesetz in der Tat nur
klarstelle, was bereits der Sinn des Art. 15 in seiner ursprünglichen
Fassung war. Die Interpretation des Artikels durch das Ge-
setz vom 5. April 1873 war nicht sowohl authentisch als richtig.
Der Artikel hat weder die staatliche Kirchenhoheit, das ius circa
sacra, überhaupt, noch insbesondere die Aufsichtsgewalt über Kirchen
und andere Religionsgesellschaften, das ius inspiciendi cavendi, auf-
heben wollen; er steht auch der differentiellen Behandlung der Religions-
gesellschaften durch den Staat, dem Erlasse „besonderer Gesetze“ in
diesem Sinne, nicht entgegen.
Die Behauptung, Art. 15 ordne das Verhältnis von Staat und
Kirche auf der Basis rechtlicher Gleichstellung der beiden, also auf
der Basis der sogenannten Koordinationstheorie (Reichensperger im
Hd Abg 1875 1262) ist abwegig. Wäre sie richtig, so müßte, da der
Artikel die „Selbständigkeit“, welche angeblich gleichbedeutend sein soll
mit Negation der staatlichen Kirchenhoheit, nicht nur der katholischen
und evangelischen Kirche, sondern allen Religionsgesellschaften ohne
Unterschied zusichert, jeder auf Grund der Vereinigungsfreiheit des
Art. 12 neu sich bildenden Sekte die Koordination mit dem Staate
zugestanden werden (s. den Komm Ber von 1873, oben S. 291). Dies
wird niemand behaupten wollen.
Wie weit die verfassunggebenden Faktoren entfernt waren, sich zu der
Koordinationslehre zu bekennen, ergibt sich im übrigen aus folgendem.
Der dem Art. 15 entsprechende Art. 19 Abs. 1 des Komm Entwder Nat ers
(s. oben S. 283) hatte gesetzt: „Jede Religionsgesellschaft ist in betreff ihrer
inneren Angelegenheiten und der Verwaltung ihres Vermögens der Staats-