Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Artikel 15. Derogatorische Wirkung des Artikels. 319 
Dieser Satz ist vom Geiste des Staatskirchentums beherrscht und 
daher ausgehoben. Die von ihm den Kirchen auferlegten Pflichten 
sind gedacht als solche gegenüber dem Staat. Soweit diese Pflichten 
die „Einflößung von Ehrfurcht gegen die Gottheit“ zum Gegenstande 
haben, ist ihr Fortbestand schon mit dem Grundsatz der Glaubens- 
freiheit, also mit Art. 12, im übrigen sind sie mit Art. 15 unvereinbar. 
Der Gedanke, daß die Kirche dem Staate gegenüber verpflichtet und 
dafür verantwortlich ist, ihre Angehörigen zu gehorsamen, treuen und 
sittlich tüchtigen Bürgern zu erziehen, hat nur Platz in einem System, 
welches die Kirche als Staatsorgan, als eine staatlichen Zwecken dienst- 
bare Kultur- und Polizeianstalt betrachtet, kurz im Einheitssystem vom 
Typus des Staatslirchentums. Eben dieses System ist aber, wie vielfach 
erörtert, durch die Verfassung aufgehoben; die ihm eigentümliche Ver- 
bindung zwischen Staat und Kirche und die aus dieser Verbindung 
solgende Pflicht der Kirche, dem Staate bei der Besorgung seiner 
Geschäfte zu helfen, ist beseitigt. Ein weiteres, besonders Argument 
gegen die Fortgeltung des § 13 II 11 ergibt sich übrigens daraus, 
daß seine Aufrechterhaltung, welche von der I. K. bei der Revision des 
Art. 11 oktr V durch Annahme des diesen Paragraphen reproduzierenden 
Antrags Walter--Bornemann (s. oben bei Art. 13, S. 236) beschlossen 
worden war, von den andern Faktoren (von der II. K. wegen Ver- 
etzung der Religionsfreiheit; vgl. oben S. 236, 237) abgelehnt wurde. 
Die I. K. fügte sich dieser Ablehnung und waren also die verfassungs- 
gebenden Faktoren darüber einverstanden, daß der # 13 II 11 nicht 
mehr gelte und auch nicht wieder in Geltung zu setzen sei. 
2. Der § 18 h. t. 
„Die von ihnen (den Kirchengesellschaften) zur Ausübung ihres 
Gottesdienstes gewidmeten Gebäude sind als privilegierte 
Gebäude des Staates anzusehen“ 
steht mit Art. 15 gleichfalls im Widerspruch, wenigstens sofern man 
ihn wörtlich nimmt: die Kirche ist im Grunde nur ein Stück Staat 
und daher das Kirchengebäude Staatsgebäude. Legt man aber, was 
wohl das Richtige sein wird, dem Paragraphen den Sinn unter: die 
Kirchengebäude sind rechtlich so zu behandeln als wären sie Staats- 
gebäude und genießen deren Vorrechte (vgl. auch § 174 h. t. und 
Hinschius, Preuß. Kirchenrecht, Noten zu & 18 und 174), so ver- 
schwindet der Widerspruch; § 18 erscheint dann als eine privilegierende 
Satzung der oben S. 315, 317 angegebenen Kategorie, welche neben 
und mit Art. 15 bestehen kann.
	        
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