Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Artikel 32. Begriff und Wesen des Petitionsrechts. 543 
mehr auch bei den Kammern frei petitionieren zu dürfen, war eben, 
wie die Kammern überhaupt, bei Erlaß der Verfassung etwas Neues. 
Im übrigen aber bezieht sich Art. 32 ganz ebenmäßig auch auf die an 
die Regierungsorgane gerichteten Petitionen; er gewährleistet, wie sein 
Vorbild, Art. 21 der belgischen Verfassung (oben 542), das Recht, an 
alle „autorités publiques“ zu petitionieren (richtig Loening, VArch 13 11 
und im Herrenhause, HH 1904 495). Wenn man die Worte „aux 
autorités publiques“ aus dem belgischen Vorbilde nicht unter sinn- 
entsprechender Verdeutschung herübernahm, so geschah dies, wie Loening 
a. a. O. zutreffend ausführt, einmal deshalb, weil sie selbstverständlich 
erschienen, und dann, weil die deutsche Gesetzessprache einen kurzen 
Aucdruck, der, wie „autorités publiques“, den König, die Volks- 
vertretung und die Behörden zusammenfassend bezeichnet, nicht kennt, 
— während es, so möchte die Betrachtung Loenings weiterzuführen 
sein, in der Sprache der Wissenschaft an einem entsprechenden Worte 
keineswegs fehlt: mit „autorité publique“ deckt sich genau unser 
„Staatsorgan". 
Das verfassungsmäßige Petitionsrecht besteht in der 
ungehinderten Möglichkeit, Bitten (im weitesten Sinne: Gesuche, 
Vorstellungen, Anträge, Beschwerden) an die Organe des Staates 
(den König, den Landtag, die Staatsbehörden, die Selbstverwaltungs- 
körper) zu richten. 
Gegenständliche Beschränkungen des Petitionsrechts ergeben sich 
aus dem Begriffe nicht (über die positivrechtlichen Beschränkungen fs. 
unten 546 f.). Im allgemeinen kann Gegenstand einer Petition alles 
sein, was der Petent für sein oder eines Dritten Recht oder bloßes 
Interesse hält, oder überhaupt, was er dem Adressaten vorzutragen für 
gut befindet. Die Petition kann eine Beschwerde oder auch Bitten anderer 
Art, Wünsche, Forderungen, Vorschläge (z. B. wegen Erlasses oder Ande- 
rung eines Gesetzes) enthalten. Soweit sie Beschwerde ist, kann sie Rechts- 
oder Interessenbeschwerde sein (Jellinek, Syst. der subj.-öff. Rechte 131, 
Allgem. Staatslehre 774; Meyer-Anschütz 817). Unter den Begriff der 
Petition im Sinne des Art. 32 fallen mithin alle durch das positive 
Recht gegebenen Rechts- und Interessenschutzmittel mit einziger Aus- 
nahme der gerichtlichen Klage, welche letztere der Sprachgebrauch stets 
von den Beschwerden und andern Petitionen getrennt hat und welche 
auch von der Verfassung, im Art. 7, gesondert, unter dem Gesichts- 
punkte behandelt ist, daß niemand seinem gesetzlichen Richter, also auch 
niemandem sein gesetzliches Klagerecht bei dem gesetzlichen Richter ent- 
zogen werden darf (s. oben 1.17 ff.). So ergänzen sich Art. 7 und 32
	        
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