Entstehung des Oktroyierungegedankens. 45
und nennt sie auch noch heute die „oktroyierte“ Verfassung, da sie nicht,
wie ursprünglich versprochen und beabsichtigt, mit der Nat Ver ver-
einbart, sondern ohne und wider deren Willen kraft der ihm noch immer
unvermindert und unbeschränkt zustehenden legislativen Gewalt vom
König gegeben worden ist.
Der Erlaß der oktr V bedeutete die Preisgabe des Vereinbarungs-
prinzips, auf welches sich die Regierung, wie gezeigt, seit dem Antritt
des Ministeriums Camphausen festgelegt hatte. Es fragt sich, wann
und wie der König und diejenigen, die ihn — verantwortlich oder
unverantwortlich — berieten, dazu gekommen sind, an der Möglichkeit
der Vereinbarung zu verzweifeln und den Weg der „Oktroyierung“
zu beschreiten.
Auch über diese Partie der Entstehungsgeschichte unserer Verfassung
sind wir, wie über die Genesis des Urentwurfs, jetzt zwar besser wie
früher (wie insbesondere vor der Veröffentlichung der Gerlachschen
Denkwürdigkeiten, 1891), aber doch immer noch nicht so genau orientiert
als es wünschenswert wäre.
In den ersten drei Monaten der Nat Vers, also im Sommer
1848, findet sich von dem Oktroyierungsgedanken noch nirgends eine
Spur. Wohl sahen schon damals manche — der König selbst, der
General Gerlach, Bismarck und andere Hochkonservative, aber auch
Liberale, wie Vincke und Beckerath — ein, daß man mit der mehr
und mehr in den Bann eines politisch unmöglichen Radikalismus
geratenden Nat Vers zu keiner Verständigung über das Verfassungs-
werk werde gelangen können, was die Frage „was dann?“ naturgemäß
nahelegte. Wie die Tagebucheintragungen Gerlachs (1 172, 175, 176,
180, 182) beweisen, hat man sich in der Umgebung des Königs mit
dieser Frage seit Ende Juni beschäftigt. Als das Nächstliegende erschien
die Auflösung der Nat Vers und dann die Berufung entweder einer
neuen, nach dem geltenden Wahlgesetz vom 8. April 1848 (oder einem
neuen Gesetz) zu wählenden Versammlung, oder aber auch des Ver-
einigten Landtags. Auch die Ausstellung eines neuen Verfassungs-
entwurfes wurde erörtert. Daran aber, den Weg der Vereinbarung
mit einem — gleichviel welchem — parlamentarischen oder ständischen
Vertretungskörper überhaupt zu verlassen, hat in jenen Sommermonaten,
soweit die Quellen reichen, noch niemand gedacht.
Als das erste Auftauchen dieses Gedankens, der Oktroyierungs-
idee, bezeichnete man seit dem Erscheinen der Gerlachschen Denkwürdig-
keiten ein Gespräch des Verfassers derselben mit Bismarck am 16. September
1848. Die betreffende Notiz der „Denkwürdigkeiten“ (1 199) lautet