Das Verfahren der Revisionskammern. 55
sondern überließ es ihnen, die ihnen notwendig und angemessen scheinenden
Beschlüsse zu fassen, — Beschlüsse, die, soweit sie Anderungen der oktr V
enthielten, die rechtliche Natur von parlamentarischen Gesetzvorschlägen,
von Initiativakten einer oder beider Kammern hatten. Nur in bezug
auf zwei Punkte enthielt die oktr V selbst die Andeutung eines Vorschlags
über etwa zu bewirkende Anderungen ihrer Bestimmungen: zu Art. 63
und 67 (die Zusammensetzung der Kammern betreffend) geben Fußnoten,
die unter dem authentischen Text in der GS abgedruckt sind, anheim,
zu erwägen, „ob ein Teil der Mitglieder der I. Kammer vom König
zu ernennen und ob den Oberbürgermeistern der großen Städte, so-
wie den Vertretern der Universitäten und Akademien der Künste und
Wissenschaften ein Sitz in der Kammer einzuräumen sein möchte“,
ferner, „ob (für die II. Kammer) nicht ein anderer Wahlmodus,
namentlich der der Einteilung nach bestimmten Klassen für Stadt und
Land vorzuziehen sein möchte“.
Aus dieser Stellung der Kammern zu der von ihnen zu revi-
dierenden Verfassung, aus der Tatsache, daß letztere nicht ein von
der Regierung vorgelegter Gesetzentwurf, sondern ein bereits in Kraft
stehendes Gesetz war, folgte für die parlamentarische Behandlung, daß
die Debatte nicht von dem Verfassungstext, sondern von dem zu
diesem Text, sei es von den Kommissionen, sei es im Plenum ge-
stellten Anträgen auszugehen hatte. Diese Anträge, nicht der Text
der oktr B kamen zuerst zur Beratung und Abstimmung (richtig hervor-
gehoben von dem Berichterstatter des Zentralausschusses der I. K., Grafen
Itzenplitz, I. K. 716). Den von den Kammern gefaßten Beschlüssen
stand die Krone ebenso gegenüber wie allen von ihnen ausgehenden
Vorschlägen betr. Abänderung oder Aufhebung bestehender Gesetze: sie
durfte (nicht mußte) diese Beschlüsse nur annehmen, wenn sie von
beiden Kammern übereinstimmend gefaßt waren, durfte sie aber
nicht sanktionieren, soweit die Kammern voneinander abwichen. So-
weit letzteres der Fall war, also die von der einen Kammer be-
schlossene Anderung eines Textteiles der oktrV von der anderen ab-
gelehnt wurde, verblieb es bei dem Text in seiner ungeänderten Ge-
stalt, — die „Revision“ war dann insoweit erfolglos geblieben. Dieser
Grundsatz wurde nicht nur auf ganze Artikel, sondern auch auf jeden selb-
ständigen Satz oder Satzbestandteil innerhalb der Artikel angewandt (z. B.
auf Art. 25 Abs. 3 „in der öffentlichen Volksschule wird der Unterricht
unentgeltlich erteilt“], welcher infolge einer unausgleichbaren Meinungs-
verschiedenheit beider Kammern in der Fassung der oktr V bestehen blieb,
unten 469, 470; vgl. ferner Art. 42 Abs. 3 Nr. 1, unten 594).