68 Artikel 1. Preußen als Einheitsstaat.
2. Auslegung. — I. Bei der Beratung des Artikels in der I. Kammer
trat die Meinung hervor, derselbe sei selbstverständlich, daher überflüssig
(Abg. v. Gerlach, I. K. 636). Dem wurde mit Recht entgegengehalten,
daß die Nichtüberflüssigkeit der Bestimmung sich aus dem Zusammen-
halt mit Art. 2 ergebe. Art. 1 enthalte die Definition des Staatsge-
bietes, worauf dann Art. 2 bestimme, daß dieses Gebiet nur durch ein Gesetz
soll verändert werden können (Abg. Camphausen, a. a. O. 642). M. a.
W.: Art. 1 legt den territorialen Besitzstand Preußens vom Tage des
Inkrafttretens der Verfassung („gegenwärtigen") verfassungsgesetzlich
fest; wäre dem ein Weiteres nicht hinzugefügt, so würde jede
Anderung dieses status quo eine Verfassungsänderung in sich schließen
und die Formen derselben erfordern (wie dies, angesichts R. V.
Art. 1 und mangels einer dem Art. 2 der preuß. Verf. entsprechen-
den Vorschrift im Deutschen Reiche bei Anderung der Reichsgrenzen
Rechtens ist). Jedoch soll nach Art. 2 hierzu ein einfaches Gesetz
genügen.
II. Auch in einer anderen Beziehung ist Art. 1, wenn auch nicht
unentbehrlich, so doch nicht überflüssig. Er bringt nämlich, so wie er
gefaßt ist, den Gedanken der Einheit und Unteilbarkeit des Staats-
gebietes und damit ein notwendiges Erfordernis der Staatseinheit zum
Ausdruck. Die Verfassung bringt den geschichtlichen Entwicklungsgang,
welcher von der Personalunion einst selbständiger Territorien zum Ein-
heitsstaat führte, zum letzten formellen Abschluß, sie kennt den „preußischen
Staat" (vgl. auch Uberschrift und Eingangsformel der Verfassung) nur als
Einheitsstaat. Es war ein unschädlicher, freilich grober Formverstoß,
wenn die preußische Gesetzsammlung noch bis in die neueste Zeit
(1. Jan. 1907, val. AllerhErl v. 24. Nov. 1906, GS 439, dazu Anschütz im
Jahrb. f. öff. R. 1 205) als GS., für die königlichen preußischen Staaten“
erschien und derselbe Anachronismus in der Uberschrift des „Allge-
meinen Berggesetzes für die Preußischen Staaten“ v. 24. Juni 1865 zutage
trat. Staatseinheit ohne Einheit und Unteilbarkeit des Gebietes ist undenk-
bar, das Gebiet „teilen“ heißt den Staat zerstören. Es handelt sich also hier
um eine Lebensnotwendigkeit des Staates. Der Grundsatz der Un-
teilbarkeit ist demnach nicht „eng“ zu interpretieren, wie Rehm, Fürsten-
recht S. 50, will, sondern, als Staatsnotwendigkeit, weit, so weit, daß
er für Ausnahmen schlechthin keinen Raum läßt. Er gilt nicht als
„Forderung der Zweckmäßigkeit“ (Rehm a. a. O. S. 396), sondern kraft
positiven Rechts; er gilt nicht auf Zeit, d. h. nur so lange als der
Mannesstamm des königlichen Hauses besteht (a. a. O. S. 50 f., dagegen:
vK3 1 221), sondern auf ewige Dauer, er gilt nicht mit Vorbehalt, sondern