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Ob eine solche aber auch wirklich verpflanzt werden kann, muss in jedem
einzelnen Falle ängstlich geprüft werden. Im vorliegenden ist dieser prä-
judiziellen Frage nicht die angemessene parteilose Prüfung von allen Seiten
zuteil geworden. Das Werk von BoNFILs ist eine tüchtige Leistung, die
den Völkerrechtsstudien der französischen Rechtskandidaten ein Höhen-
niveau gegeben, das bei uns in Deutschland durchschnittlich kaum den Be-
werbern um den Befähigungsnachweis des diplomatischen Berufsexamens
zugemutet zu werden pflegt. Die Umarbeitung und Ergänzung von der
Hand eines der tüchtigsten Vertreter aus der Gruppe der jüngern franzö-
sischen Völkerrechtsautoren aus der Schule L. RENAULTSs, LAIN£s, A. WEISS
etc. — FAUCHILLES gelehrte Revision des BonriILs’schen Werkes ist aus
dem Boden des französischen Studiensystems herausgewachsen, ein brillantes
Werk, dem wir nach Inhalt und Form wenig deutsche zur Seite setzen
könnten, Seine Uebersetzung ins Deutsche durch Dr. GrAH zeigt überall
Sachkunde gepaart mit zumeist ausreichender Kraft zur Bewältigung von
Sprachschwierigkeiten: alle Voraussetzungen sind somit, um im Tageston zu
verbleiben, „mit Rekord“ genommen und dennoch ist das uns vorgelegte
dickleibige Werk keine inhaltliche Bereicherung unserer
deutschen völkerrechtlichen Literatur.
Der Schlüssel zur Lösung der Widersprüche liegt eben in der Tatsache,
dass das Buch weder deutsch noch französisch ist. Das ewig ungelöste Rätsel
der Sprachwirkung: derselbe Grundgedanke, dasselbe generalisierende Axiom
wirkt in französischer Fassung glatt orientierend und bringt uns mit „fröh-
lichem Ungeführ“ dem geistigen Ziele des Verfassers näher; im Professoren-
talar der deutschen exakten Formulierung erscheint uns derselbe Gedanke
unzutreffend, schief, er steht haltlos in der Luft und muss jeden Augenblick
platt zu Boden fallen. Häufig gelingt es dem Bemühen GRAHS der Wieder-
gabe jenes Schicksal zu ersparen; häufig, nicht immer. Dann büssen
aber natürlich auch die Sätze des Originals ihre Zuversichtlichkeit ein,
den Glauben an sich selbst. In der dogmatischen und rechtehistorischen
Einleitung zeigt sich diese innere Spaltung ganz von selbst, hier ist es
auch der Hand GRAHS nicht immer gelungen, durch geeignete Einschiebun-
gen und Milderungen die natürlichen Einseitigkeiten des französischen Ur-
textes zu mildern oder zu verbessern. Aber auch im übrigen Gefüge der
materiellen Darstellung nimmt sich die französische „Systematik“ völlig
frei von jeder ‚störenden Einwirkung der deutschen Facharbeit selt-
sam genug aus, So wenn der ganze Rechtsstofl' eingeteilt wird nach den
Kategorien: Die Personen („Staaten*, „der Papst(!)“ und „der Mensch in
seinen völkerrechtlichen Beziehungen*®....), die Sachen (Staatsgebiet und
das Meer) und der gesamte übrige Rest im dritten Teil der „friedlichen
Beziehungen zwischen Staaten“, der die ganze Materie von den internatio-
nalen Magistraturen und vom Vertragsrecht umfasst. Soll unsere Zukunft
wirklich auf dem Flachland solcher Systematik, einer solchen grundsätz-
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