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in der 2, Abteilung (8. 73—137) die „Entstehung der Arten und des Men-
schen durch Anpassung und daher auch gemäss des Gleichgewichtsgesetzes*
behandelt, während in der 8. Abteilung (S. 139—329) „alle (tierischen und)
menschlichen Betätigungen als Produkte des Gleichgewichtsgesetzes oder
der Anpassung* in Abteilung 4 (S. 330—457) endlich die „Entstehung der
Gesellschaft, des Staates, des Rechtes, der Gesetze und der Moral durch
Anpassung und daher nach dem Gleichgewichtsgesetze* erklärt werden.
Da wir auf den letztgenannten Abschnitt später noch etwas näher einzu-
gehen beabsichtigen, sei hier zunächst an einigen Beispielen aus den ver-
schiedenen Abteilungen erläutert, wie der Verfasser mit seinem Gesetze ar-
beitet. Es zeigt, dass die Zunge des Termiten vertilgenden Ameisenbären
deshalb lang wurde, weil durch die Termiten seine mit dem Geschmacks-
sinn kommunizierenden Gehirnpartien und so die mit ihnen verbundene Zunge
geändert und angepasst wurden (S. 100); es zeigt, dass das Rätsel des
Selbstmordes seine Lösung durch die Beseitigung einer Gleichgewichtsstö-
rung im Menschen erhält (S. 179); es zeigt, dass der von der Physiologie und
Embryologie bisher nicht völlig erklärte eigentliche Befruchtungsvorgang durch
das Angezogenwerden (als Folge der Anpassung) von Sperma und Ei seine
Aufhellung findet (S. 325). Und auch die Erfolge Japans in dem jüngst
beendeten Kriege mit Russland sind „einfach: selbstverständliche Konse-
quenzen des Gleichgewichtsgesetzes", da die weise Verfassung des Mikado
mit ihrer Gleichstellung aller vor dem Gesetze den Boden für die unge-
störte Gehirnanpassung der Bürger an das Vaterland und für die automa-
tische Erzeugung des Patriotismus abgibt! (S. 445.)
Die Kritik des vorliegenden Buches hat naturgemäss bei dem Gleich-
gewichtsgesetze selbst einzusetzen. Hier ist nun zu sagen, dass dies „em-
pirisch nachgewiesene“ Gesetz nur eine Erklärung für die Form resp. das
Resultat sehr vieler Fälle des Geschehens in der Welt abgibt, dagegen
nichts über den Inhalt d. h. das Wesen des Geschehens aussagt. Darauf
kommt es aber schliesslich doch allein an! Damit, dass uns z, B. gesagt
wird, die Befruchtung beruhe auf einem Angezogenwerden (was auch noch
von manchen bestritten wird), ist dieser Vorgang keineswegs erklärt. Durch
welche Kräfte ziehen sich denn Sperma und Ei an? Hierüber gehen aber
die Ansichten weit auseinander. Was ferner die Wirkung des Gleichge-
wichtsgesetzes bei den Erfolgen der Japaner anlangt, so lehrt doch wohl
die Geschichte zur Genüge, dass trotz weiser Verfassung eines Staates, trotz
des aufopfernden Patriotismus eines Volkes blosse Uebermacht oder nackter
Zufall im Kriege alles zu Schanden werden lassen kann.
Da es nicht unsere Aufgabe sein kann, über die Bedeutung des Gleich-
gewichtsgesetzes in der „Natur“ ein endgültiges Urteil abzugeben, so sei
in dieser Hinsicht erwähnt, dass der Naturforscher und Naturphilosoph
WILHELM OsTwALD ihm in der Besprechung in seinen „Annalen der Na-
turphilosophie* (Band IV Heft 4) jeden Wert abspricht und jedes nähere