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Würdigung der sog. Deszendenztheorie, Thüringische Verlags-Anstalt Eisen-
ach und Leipzig (ohne Jahreszahl). VI. und 244 S.
Das vorliegende Werk stellt sich zur Aufgabe, die Prinzipien der Des-
zendenztheorie für Recht und Politik wissenschaftlich zu verwerten. Unter
„Prinzipien der Deszendenztheorie* versteht Verf. nicht Handlungsgrund-
sätze im Sinn Kants, sondern Naturgesetze, mit welchen unsere Initiative
zu rechnen habe, um die Zwecke (die Ideale), die sie sich setzt, erreichen
zu können. Diese Initiative beruht auf einem relativ freien Willen, den
der Verf. gegen den „naturgesetzlichen Fatalismus“ verteidigt; die Betrach-
tungsweise des bloss kausal denkenden Naturforschers und des rein teleo-
logisch denkenden Ethikers seien demdach zu vereinigen. Neben den Fra-
gen, was war und was ist und was sein wird (werden muss) drängt sich
die Frage auf, was geschehen soll. Das Ziel der Gesellschaftswissenschaf-
ten sei, in Kürze ausgeurückt, die Ausprägung eines bessern Menschentypus.
Verf. tritt dem Vorurteile entgegen, als ob die Anerkennung der Ergebnisse
der Deszendenztbeorie und einer natürlichen Schöpfungsgeschichte notwen-
dig eine materialistische, jegliche, auch immanente Teleologie verneinende
Weltanschauung vorausseizen oder nach sich ziehen müsse; diese Theorie
präjudiziere nicht im geringsten über die letzten Gründe und den Endzweck
alles Daseins,
Verf. behandelt im ersten Teile die biologischen Grundlagen, Vererbung
und Anpassung, Auslese und Kampf ums Dasein, kontinuierliche und dis-
kontinuierliche Variation. Es ist erstaunlich, wie Verf. die weitschichtige
naturwissenschaftliche Literatur über die Abstammungslehre beherrscht. Der
zweite Teil des Werkes erörtert die Anwendung der biologischen Grund-
sätze auf Staat und Gesellschaft, die Kormalselektion (in Anlehnung an die
Ausdrucksweisse WEISMANNs). Verf. weist darauf hin, dass so ziemlich je-
der Staat seine besondere Entwicklungsgeschichte habe. Im Gegensatze zu
BACHOFEN sieht Verf. den ursprünglichen Kern jeder Gesellschaftsgruppe
in der aus monogamischer Ehe hervorgegangenen Familie. Nach den Ge-
setzen der Anpassung und der indirekten Auslese ergeben sich gesellige
und moralische Eigenschaften, die, nebst den weitern Triebfedern des Lolı-
nes und Zwanges zur Gesellschaftsbildung führen. Die ersten Staatsbil-
dungen sind nach Verf. auf der Grundlage der Blutsverwandtschaft zu
Stande gekommen und zwar zunächst in der Form des Patriarchalstaates
Die feindselige Berührung mit fremden Stämmen, der Krieg, führte dann
auf dem Wege der Anpassung zur Wehrverfassung. Die Unterwerfung eines
Volkes durch ein ihm nahestehendes, an Rassenwert gleichkommendes Volk
führt zum Ständestnat im Gegensatz zum Klassenstaat; der erstere verei-
nigt die Vorzüge der Gesetze der Vererbung mit denen der Anpassung,
während der letztere einseitig an der konservativen Vererbung festhält.
Die territoriale Staatsentwicklung beginnt mit dem Uebergang zum Acker-
bau; letzterer bewirkt eine vergrösserte Bevölkerungskapazität des Territo-