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England nimmt gemäss seiner grossen Zahl von Einrichtungen und
Gesetzen auf dem Gebiete des Kinderschutzes (vgl. I S. 206 aus der Zeit
von 1866—1901 19 Gesetze) einen ganzen Band der Darstellung ein. Zwangs-
resp. Fürsorgeerziehung wird dort in den Reformatory Schools und den
Industrial Schools ausgeführt. Angeregt durch die Philanthropin Miss CaR-
PENTER, welche 1851 in einer Schrift industrial sch. für die landstreichende
und reformatory sch. für die verbrecherische Jugend vorschlug, um die Nach-
teile der Gemeinschaft zwischen jugendlichen und älteren Sträflingen zu
vermeiden, ist die Gesetzgebung auf diesem Gebiet seit 1854 ständig im
Fluss (S. 9). Während bis 1893 diese Gesetze erst Strafe, dann Erziehung
forderten und den Richter zur Ueberweisung des jugendlichen Uebeltäters
an eine Reformatory (auf 2—5 Jahre) nur im Anschluss an eine mindestens
l4tägige Gefängnisstrafe ermächtigten, beherrscht die Gesetze von 1893 und
1899 der Satz: Erziehung statt Strafe. Das Gericht kann gegen einen
Jugendlichen unter 16 Jahren auf Gefängnis oder auf Ueberweisung in
eine Reformatory school zur Besserung erkennen, wodurch übrigens die Be-
fugnis des Richters, in ernsten Fällen dieser Ueberweisung Prüg elstrafe
voraufzuschicken (bis zu 6 Streichen mit Birkenruten bei Jugendlichen unter
14 und bis zu 12 Streichen bei solchen von 14—16 Jahren), nicht berührt
wird (8. 12-15). Während in der Reformatory nur jugendliche Verbrecher
Aufnahme finden, gelangen in die ursprünglich nur für landstreichende Kin-
der bestimmten Industrial schools jetzt auch Straffällige geringfügiger Art
unter 14 Jahren (S. 42), Verwahrloste und in gefährlicher Gesellschaft be-
findliche und solche Kinder, deren Eltern zur Erziehung unfähig sind (8. 22).
Abarten dieser Erziehungsinternate sind in den Day industrial schools seit
der 1870 begründeten allgemeinen Schulpflicht entstanden (S. 22 u. 28),
welche Unterricht und Mahlzeiten, aber nicht Nachtquartier gewähren und
der Herbeiführung regelmässigen Schulbesuchs bisher Schulsäuniger dienen
(S. 33), während die für den gleichen Zweck bestimmten 'I'ruant schools bei
strengerer Aufsicht auch für die Nacht aufnehmen. Alle diese schools sind
nur Privatanstalten, die vom Minister des Inneren bei Erfüllung gewisser
Voraussetzungen in baulicher Hinsicht und im Erziehungsplan genehmigt
(certified) werden und gegen einen Staatsbeitrag ihnen zugewiesene Zöglinge
aufzunehmen haben (S. 98). Die sonstigen Kosten werden durch Privat-
wohltätigkeit, Elternbeiträge und Grafschaftssteuern aufgebracht. Diese
Anstalten erteilen vorwiegend praktischen Arbeitsunterricht in Handwerken,
Gärtnerei, Militärmusik etc. (S. 71), bilden auch auf training ships zu Ma-
trosen heran (S. 66). Der Elementarunterricht tritt hiergegen sehr zurück
und ist erheblich dürftiger ale auf einer österreichischen Dorfschule (8, 71).
Als Strafmittel dient ausser Einsperrung auch mässige körperliche Züchti-
gung (S. 61). Die wirksame Bekämpfung der Kriminalität durch diese Schu-
len, insbesondere ihre Zerstörung der jugendlichen Verbrecherbanden in den
grossen Städten und ihre Herabminderung des Gewohnheitsverbrechertums