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tritt damit die Richtung der Kirchenpolitik, die Karl Rieker als das not-
wendige Ergebnis der von ihm in seinen grundlegenden Arbeiten nachge-
wiesenen bisherigen geschichtlichen Entwickelung des deutschen Protestan-
tismus ansieht ?. \
Es ist nicht gesagt, dass man grade in nächster Zeit in Preussen ge-
nötigt sein wird, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. Es ist wohl mög-
lich, wenn nicht wahrscheinlich, dass sich der jetzige Verfassungszustand
doch bis auf weiteres noch als Beharrungszustand bewährt: Möglich ist
es aber auch, dass plötzlich eintretende Umstände, insbesondere das Be-
dürfnis einer Neuordnung des Verhältnisses des Staats zur katholischen
Kirche, mit der man so gern egalisierende Bestimmungen für die evange-
-lische Kirche zu verbinden pflegt, die Frage über Nacht in Fluss bringen
und zu Entscheidungen drängen. Jedenfalls ist es Aufgabe der Rechts-
wissenschaft, den Tatbestand der gegenwärtigen Verfassung in allen Be-
ziehungen klarzustellen. Ich habe nun schon des Öfteren Veranlassung ge-
nommen, darauf hinzuweisen, dass,gerade über den doch so grundlegen-
den Begriff der Landeskirche und deren Funktionen noch sehr viel
Unklarheiten bestehen*. Manchen ist die Landeskirche gar nur die Ge-
samtheit der zum Generalsynodalverband verbundenen Gemeinden; Bestand-
teile wie das Anstalts- und Stiftungswesen sowie das Militärkirchenwesen
bleiben dabei ganz unberücksichtigt. Die wichtigsten Kriterien, die beson-
deren organischen Beziehungen zur Staatsverwaltung, die Rechtsgrundlage,
dass präsumtiv alle evangelischen Personen und Einrichtungen dem
landeskirchlichen Verbande angehören, werden gewöhnlich ganz ignoriert
oder nicht richtig erkannt, obwohl darin allein die verschiedene Be-
handlung der Landeskirchen vor anderen, auch evangelischen, Religionsge-
meinschaften ihre Begründung findet. Ueber alle diese Fragen sollte vällige
Klarheit herrschen, ehe man Vorschläge für eine Veränderung des bisheri-
gen Zustandes macht. Das hat offenbar auch Förster gefühlt. Er will in
seinem Buch Klarheit darüber schaffen, wie es zur Bildung der als Landes-
kirche bezeichneten Institution gekommen ist, wobei er mit richtigem hi-
storischen Verständnis davon ausgeht, dass sich diese Frage nür jeweilig
für ein bestimmtes Land konkret beantworten lasse. Er findet die Anfänge
zur Ausgestaltung der Landeskirche in der Regierungszeit Friedrich Wil-
3 So zuletzt besonders markant in dem Vortrag: Sinn und Bedeutung
des landesherrlichen Kirchenregiments. Leipzig 1902.
® Grundzüge der Verwaltungsorganisation der altpreussischen Landes-
kirche. Berlin 1902 S. 7ff., Verwaltungsarchiv Bd. XII S. 600.
* Es ist charakteristisch, dass auch das umfangreiche neueste Evange-
lische Kirchenrecht (von Lüttgert, Gütersloh 1905), welches ein Lehrbuch
sein will, über den Begriff der Landeskirche nur mit einer kurzen, ganz
schiefen Bemerkung hinweggeht. |