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reduzieren, wenn auch die tatsächliche Entwicklung im entgegen-
gesetzten Sinne verläuft; denn „die Verfassung gestattet ebenso-
wohl die Fortentwicklung in dezentralisierender, föderalistischer
Richtung wie die Konsolidierung zum Einheitsstaat“ (LABAND
a. 8. OÖ. S. 129) 2,
Aber auch wenn das Reich alle Hoheitsrechte in substantia
auf sich vereinigen würde, würden die Einzelstaaten — nach dem
Gesagten — gleichwohl nicht aufhören, souverän zu sein, und
also auch nicht aufhören, Staaten zu sein. Denn das essentielle
Merkmal der Staatsqualität verbliebe ihnen gleichwohl, wir meinen
die Fähigkeit, Hoheitsrechte zu haben; denn diese ist ja, wie
wir wissen, unabhängig vom Wechsel der substantiellen Hoheits-
rechte, sie dauert also unverändert fort, auch wenn man alle sub-
stantiellen Hoheitsrechte von ihr abstrahiert *°.
Daß aber die potentielle Souveränität der Glied-
staaten kein bloßes theoretisches Phantom, sondern ein im
eminenten Sinne aktueller Begriff ist, das würde
namentlich in dem Falle praktisch werden, daß das Reich — aus
irgendeinem Grunde — einzelne Hoheitsrechte wieder aufgeben
würde oder daß es als solches aufhörte, zu existieren: Dann wür-
den nämlich die Hoheitsrechte der Einzelstaaten, die bis dahın
21 Vgl. auch JELLINEK a. a. O. S. 718 und Staatenverb. S. 304 fg.
22 Man wird einwenden: Einen Staat, der keine (substantiellen) Hoheits-
rechte hat, gibt es nicht. Historisch ist das richtig; aber die praktische
Unwahrscheinlichkeit, die mangelnde Lebensfühigkeit eines solchen Gebil-
des beweist nichts gegen seine juristische Möglichkeit. Das Beispiel
des zusammengesetzten Staates hat uns ja gelehrt, daß die einzelnen sub-
stantiellen Herrschaftsrechte nur Ausstrahlungen der Staatshoheit sind, die
ihrem Wesen nach eine bloße Potenz ist, und wir haben gesehen, daß der
Souv. im subj. und eigentl. Sinne kein einziges Herrschaftsrecht
wesentlich ist. Freilich ist ein solcher „potentieller* Staat nur mög-
lich als Korrelat zu einem „essentiellen® Staat, als Glied eines zusammen-
gesetzten Staatswesens, durch dessen (Verfassungs-) Recht er getragen, dh.
seine Fähigkeit subst. Hoheitsrechte zu haben (Staatsqualität) anerkannt
wird.