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des Reichstags nicht mehr den wirklichen Willen desselben dar-
stellen. Dem Bundesrat kann dasselbe niemals begegnen, da er
immer zuletzt abstimmt. Die einzige Möglichkeit, diese Gefahr
abzuwenden, besteht für den Reichstag darin, daß er die Be-
schlüse aufhebt, die nicht mehr seinem wirklichen Willen
entsprechen. Diese Forderung ergibt sich auch aus theoretischen
Gründen.
Wie schon bemerkt, ist der Gesetzgebungsprozeß ein ein-
heitlicher Staatsakt, die beiden Beschlüsse des Bundesrats und
Reichstags müssen als einheitliche Reichswillenserklärung aufge-
faßt werden. Hiezu ist erforderlich, daß eine Ueberein-
stimmung der gesetzgebenden Faktoren erzielt ist (Art. 5 RYV.).
Und zwar muß diese Uebereinstimmung
l. sachlich sein.
Dies ist ohne weiteres klar. \Venn dies nicht der Fall ist,
so ist eine Verschmelzung der Erklärungen der gesetzgebenden
Organe zu einer einheitlichen des Staates gar nicht denkbar. In
diesem Fall bleiben die zwei verschiedenen Beschlüsse des Bundes-
rates und Reichstages nebeneinander bestehen. Ein Gesetz kommt
nicht zustande. Es kann dies bei Amendements von praktischer
Bedeutung werden.
2. zeitlich sein.
Eine sachliche Uebereinstimmung ohne eine zeitliche ist über-
haupt keine Uebereinstimmung in Rechtssinn. Denn letztere ist
gleichbedeutend mit Willenseinigung. Wenn A im Jahre 1800
dasselbe gesagt hat, wie B im Jahre 1900, so liegt zwar eine
Uebereinstimmung ihrer Ansichten vor, aber keine Willenseinigung.
Im Art. 5 der RV. können daher vor dem Worte „Uebereinstim-
mung“ die Worte „sachliche und zeitliche“ beigefügt gedacht
werden.
Von einer zeitlichen Uebereinstimmung des Bundesrates und
Reichstages kann aber nur dann gesprochen werden, wenn der
Reichstag zur Zeit des Erlasses des Gesetzes desselben Willens