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Sie waren nicht nur Kinder der Aufklärung, sondern bis zu einem ge-
wissen (Grade auch Kinder des Polizeistaats, und glaubten daher, trotz ihrer
prinzipiellen Anerkennung der Bedeutung der Individualität, allgemeine
sittliche Axiome durch Gesetz verwirklichen zu können: so glaubten sie
im absoluten monarchischen Staat ein, weniger auf straffe Organisation.
als auf den Geist freier Vaterlandsliebe gestelltes Heer lebensfühig erhalten
zu können, so glaubten sie in einem sonst (mit Ausnahme des städtischen
Kommunalwesens und der Bauernbefreiuung) nicht geänderten staatlichen
und gesellschaftlichen Leben den Juden durch Gesetz eine gleiche vollbe-
rechtigte Menschenstellung gegeben zu haben. Wieviel hat sich davon
verwirklicht, verwirklichen können ? Was hilft z. B. den Juden die Fähig-
keit, Staatsämter zu bekleiden, solange der Staat — und das muß er nach
unserer heutigen Auffassung sein und bleiben — in der Besetzung der
Aemter frei ist? Aber das ist das wenigste; die gesellschaftlichen Gesetze
sind die entscheidenden und schließlich auch bindend für den Staat. Was
hat sich an ihnen geändert trotz der Bestrebungen der Gesetzgebung, die
Juden vor aller Verächtlichkeit zu schützen? 100 Jahre sind vergangen
seit der prinzipiellen rechtlichen Gleichstellung der Juden mit den übrigen
Staatsbürgern und nur das Problem hat sich verschoben: aus einem staats-
rechtlichen ist es ein soziologisches geworden. Und das ist das merkwür-
digste: die Gründe, die vor mehr denn 100 Jahren gegen die staatsrecht-
liche Gleichstellung der Juden vorgebracht wurden, werden heute — von
den Agitationen der Tagespolitik ist hier selbstverständlich nicht zu reden
— von der Wissenschaft der Soziologie wiederholt. Im Jahre 1913 lehrt
ein Dozent der Soziologie (G. CHATTERTON-HıLıL, Individuum und Staat.
S. 204), daß die Juden soziologische Schädlinge seien, weil sie „not-
wendigerweise dem Patriotismus unzugänglich sind“. Vor 100 Jahren
stellten die aufgeklärten Geister solchen Behauptungen den Hinweis
entgegen, daß, wenn tatsächlich die Juden gewiese — wie wir heute
sagen würden — soziologisch schädliche Rasseneigenschaften haben.
guten Teils wir selbst daran schuld sind durch die Bedrückung, die wir
sie staatlich jahrhundertelang haben erdulden lassen, und es nur die Frage
sein kann, wie man, bei prinzipieller Anerkennung der menschlichen Wleich-
berechtigung der jüdischen Staatsgenossen, diese Gefahren für die Gesamt-
heit beseitigt. Nur in dieser letzten Frage steckt das Problem, wie vor
einem Jahrhundert für das Staatsrecht, so heute für die Soziologie. Das
Problem ist groß und schwer, für unser deutsches Volk wie für die Juden
selbst. Durch das Recht ist es nicht gelöst worden, und es konnte mit den
Mitteln des Rechts nicht gelöst werden. Im Gegenteil hat vielleicht gerade
die ungeheuer bedeutsame Entwicklung des Rechts dem Problem seine
Schärfe gegeben. Auf der einen Seite empfinden die Juden es als Unrecht.
wenn große Teile unseres Volkes sich noch immer nicht darein finden
können, daß die Juden in unserem staatlichen Leben vollberechtigte Mit-