Full text: Archiv des öffentlichen Rechts. 33. Band. (33)

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Sie waren nicht nur Kinder der Aufklärung, sondern bis zu einem ge- 
wissen (Grade auch Kinder des Polizeistaats, und glaubten daher, trotz ihrer 
prinzipiellen Anerkennung der Bedeutung der Individualität, allgemeine 
sittliche Axiome durch Gesetz verwirklichen zu können: so glaubten sie 
im absoluten monarchischen Staat ein, weniger auf straffe Organisation. 
als auf den Geist freier Vaterlandsliebe gestelltes Heer lebensfühig erhalten 
zu können, so glaubten sie in einem sonst (mit Ausnahme des städtischen 
Kommunalwesens und der Bauernbefreiuung) nicht geänderten staatlichen 
und gesellschaftlichen Leben den Juden durch Gesetz eine gleiche vollbe- 
rechtigte Menschenstellung gegeben zu haben. Wieviel hat sich davon 
verwirklicht, verwirklichen können ? Was hilft z. B. den Juden die Fähig- 
keit, Staatsämter zu bekleiden, solange der Staat — und das muß er nach 
unserer heutigen Auffassung sein und bleiben — in der Besetzung der 
Aemter frei ist? Aber das ist das wenigste; die gesellschaftlichen Gesetze 
sind die entscheidenden und schließlich auch bindend für den Staat. Was 
hat sich an ihnen geändert trotz der Bestrebungen der Gesetzgebung, die 
Juden vor aller Verächtlichkeit zu schützen? 100 Jahre sind vergangen 
seit der prinzipiellen rechtlichen Gleichstellung der Juden mit den übrigen 
Staatsbürgern und nur das Problem hat sich verschoben: aus einem staats- 
rechtlichen ist es ein soziologisches geworden. Und das ist das merkwür- 
digste: die Gründe, die vor mehr denn 100 Jahren gegen die staatsrecht- 
liche Gleichstellung der Juden vorgebracht wurden, werden heute — von 
den Agitationen der Tagespolitik ist hier selbstverständlich nicht zu reden 
— von der Wissenschaft der Soziologie wiederholt. Im Jahre 1913 lehrt 
ein Dozent der Soziologie (G. CHATTERTON-HıLıL, Individuum und Staat. 
S. 204), daß die Juden soziologische Schädlinge seien, weil sie „not- 
wendigerweise dem Patriotismus unzugänglich sind“. Vor 100 Jahren 
stellten die aufgeklärten Geister solchen Behauptungen den Hinweis 
entgegen, daß, wenn tatsächlich die Juden gewiese — wie wir heute 
sagen würden — soziologisch schädliche Rasseneigenschaften haben. 
guten Teils wir selbst daran schuld sind durch die Bedrückung, die wir 
sie staatlich jahrhundertelang haben erdulden lassen, und es nur die Frage 
sein kann, wie man, bei prinzipieller Anerkennung der menschlichen Wleich- 
berechtigung der jüdischen Staatsgenossen, diese Gefahren für die Gesamt- 
heit beseitigt. Nur in dieser letzten Frage steckt das Problem, wie vor 
einem Jahrhundert für das Staatsrecht, so heute für die Soziologie. Das 
Problem ist groß und schwer, für unser deutsches Volk wie für die Juden 
selbst. Durch das Recht ist es nicht gelöst worden, und es konnte mit den 
Mitteln des Rechts nicht gelöst werden. Im Gegenteil hat vielleicht gerade 
die ungeheuer bedeutsame Entwicklung des Rechts dem Problem seine 
Schärfe gegeben. Auf der einen Seite empfinden die Juden es als Unrecht. 
wenn große Teile unseres Volkes sich noch immer nicht darein finden 
können, daß die Juden in unserem staatlichen Leben vollberechtigte Mit-
	        
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