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Sind für die historisch-politische Betrachtungsweise des Staates
Territorium, Bevölkerung, eine gewisse Stetigkeit in Kultur und
Zivilisation u. dgl. mehr Erkenntnisbedingungen des einen — in
seinem Wesen unveränderten — Staates, wenn man will der Un-
verändertheit eines Staates, so gründet sich das gleiche juristische
Urteil auf die logische Geschlossenheit des Rechtssystems oder mit
einem kurzen Worte auf die Rechtseinheit. Sie ıst es, die den
einen Staat, die Staatseinheit zu erkennen erlaubt und
gebietet.
Diese Verschiedenheit der Erkenntnisbedingungen bringt es
mit sich, daß der Historiker und Politiker oft noch die unver-
änderte Staatsindividualität annimmt, wo der Jurist bereits ein
neues Staatsindividuum erkennen muß, und daß der Jurist mög-
licherweise auch noch eine unberührte Staatsindividualität erkennen
kann, wo tiefgreifende Wandlungen im materiellen Substrat dieser
Rechtsform dem Historiker und Politiker von einem neuen Staate
zu sprechen gebieten. Im besonderen ist es eine Folge der Ver-
schiedenheit der Erkenntnisbedingungen, daß man Geburtsstunde
und Untergangsdatum des Staates im juristischen Sinne einerseits,
im historisch-politischen Sinne andererseits verschieden ansetzen
muß, wobei man es als Regel aufstellen kann, daß das historisch-
politische Gebilde die juristische Parallelerscheinung überdauert
und meist mehrere juristisch gegebene Staatsgebilde in sich
schließt; wobei aber allerdings auch der gegenteilige Fall denk-
bar ist, daß der Staat im Rechtssinne die historisch-politische
Parallelerscheinung überlebt und mithin die eine Rechtsform nach-
einander zwei oder mehrere soziale Inhalte aufweist 5.
Oesterreich kann uns aber in diesem Zusammenhange nicht zuletzt aus dem
Grunde als Paradigma dienen, weil hier einer typischen histo-
risch-politischen Kontinuität gehäufte rechtliche
Diskontinuitäten gegenüberstehen.
* Unter dem Namen des heutigen Oesterreich wird hier und im folgen-
den Ungarn nicht mitverstanden.
5 Einen solchen Sachverhalt mag man insbesondere wieder in unserem