Full text: Archiv des öffentlichen Rechts. 37. Band. (37)

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Staates zu beschränken, der für eine soziologische Betrachtung 
gegeben ist. Was ihm für seine Soziallehre Staat ist, das ist ihm 
ohne Bedenken auch für die Rechtslehre Staat. Was wir an 
JELLINEKS tiefer Systematik vermissen, ist die nächste Konsequenz 
seiner Lehre, neben der Unterscheidung der Theorien eine 
Unterscheidung der von ihnen behandelten Objekte durch- 
zuführen. Doch war, wie man zugeben muß, dem vortrefflichen 
Gedanken kein guter Boden bereitet, um zu Ende gedacht werden 
zu können, wenn der herrschenden Lehre die Vorstellung eines 
Staates, der in großen Gebieten rechtsfrei und trotzdem (auch 
trotz JELLINEK!) noch zur Gänze ein Gegenstand der Rechts- 
lehre sei, nach wie vor geläufig ist. 
Den ganzen Widersinn einer Jurisprudenz vom Unjuristischen 
— wie man wohl nicht mit Unrecht den (stets wiederholten) Ver- 
such einer Staatsrechtslehre von rechtsfreien Staatsfunktionen nennen 
kann — hat erst KELSEN ? in seinen „Hauptproblemen der Staats- 
rechtslehre“ aufgedeckt. Er hat den Staat auf das Recht be- 
schränkt und damit zugleich auch das Recht auf den Staat er- 
weitert. Staatsfunktionen, die rechtlicher Relevanz entbehren, aber 
trotzdem in einer Staatsrechtslehre Platz zu finden pflegen, werden 
für seine Lehre zur Denkunmöglichkeit. Auf eine ganz kurze, 
vereinfachte, nur den weiteren Ausführungen dienliche Formel ge- 
bracht, können wir diesen an Einfachheit und doch zugleich Groß- 
zügigkeit unübertreffbaren Gedanken KELSENs vielleicht so formu- 
lieren: Juristische Relevanz ist durch rechtliche Relevanz be- 
dingt. 
Einer derart sich selbst besinnenden, wie man sieht, lediglich 
ihrer selbstverständlichen Grenzen bewußten, auf die einfachste Weise 
geläuterten Rechtslehre wird der einzelne Staat in seiner sozialen 
Totalerscheinung, als historisch-politische Gegebenheit etwas Unfaß- 
bares. Sie kann ihn in seiner ganzen Größe und Ausdehnung in ihren 
Gedanken-Schablonen nicht unterbringen. Sie beginnt ihn zu zer- 
  
  
° Tübingen, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1911.
	        
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