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Staates zu beschränken, der für eine soziologische Betrachtung
gegeben ist. Was ihm für seine Soziallehre Staat ist, das ist ihm
ohne Bedenken auch für die Rechtslehre Staat. Was wir an
JELLINEKS tiefer Systematik vermissen, ist die nächste Konsequenz
seiner Lehre, neben der Unterscheidung der Theorien eine
Unterscheidung der von ihnen behandelten Objekte durch-
zuführen. Doch war, wie man zugeben muß, dem vortrefflichen
Gedanken kein guter Boden bereitet, um zu Ende gedacht werden
zu können, wenn der herrschenden Lehre die Vorstellung eines
Staates, der in großen Gebieten rechtsfrei und trotzdem (auch
trotz JELLINEK!) noch zur Gänze ein Gegenstand der Rechts-
lehre sei, nach wie vor geläufig ist.
Den ganzen Widersinn einer Jurisprudenz vom Unjuristischen
— wie man wohl nicht mit Unrecht den (stets wiederholten) Ver-
such einer Staatsrechtslehre von rechtsfreien Staatsfunktionen nennen
kann — hat erst KELSEN ? in seinen „Hauptproblemen der Staats-
rechtslehre“ aufgedeckt. Er hat den Staat auf das Recht be-
schränkt und damit zugleich auch das Recht auf den Staat er-
weitert. Staatsfunktionen, die rechtlicher Relevanz entbehren, aber
trotzdem in einer Staatsrechtslehre Platz zu finden pflegen, werden
für seine Lehre zur Denkunmöglichkeit. Auf eine ganz kurze,
vereinfachte, nur den weiteren Ausführungen dienliche Formel ge-
bracht, können wir diesen an Einfachheit und doch zugleich Groß-
zügigkeit unübertreffbaren Gedanken KELSENs vielleicht so formu-
lieren: Juristische Relevanz ist durch rechtliche Relevanz be-
dingt.
Einer derart sich selbst besinnenden, wie man sieht, lediglich
ihrer selbstverständlichen Grenzen bewußten, auf die einfachste Weise
geläuterten Rechtslehre wird der einzelne Staat in seiner sozialen
Totalerscheinung, als historisch-politische Gegebenheit etwas Unfaß-
bares. Sie kann ihn in seiner ganzen Größe und Ausdehnung in ihren
Gedanken-Schablonen nicht unterbringen. Sie beginnt ihn zu zer-
° Tübingen, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1911.