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daß ich die erstere Autorität negiere und die zweite an ihre Stelle
setze 2. Auch wenn die siegreiche Norm die jüngere ist, ist in
diesem Fall der Interpretationsgrundsatz „lex posterior derogat
priori“* nicht zur Anwendung gelangt; denn dieser sagt bloß, daß
die jüngere Norm der älteren ein und derselben Autori-
tät vorangeht®*.“ Doch auch damit ist — trotz dieser Ein-
schränkung — das Anwendungsfeld des oft zitierten Interpreta-
tionsgrundsatzes noch zu weit abgesteckt. Daß sie sich noch im
Herrschaftsbereiche derselben Autorität, das heißt im Rahmen ein
und derselben Rechtsordnung bewege, wenn sie in gewohnter
Weise mit dem Satze von der lex posterior operiert, glaubt ja
wohl auch die herrschende Lehre. Der Erkenntnisgrund der einen
Autorität, der einen Rechtsordnung ist ihr die innere Wider-
spruchslosigkeit, diesich bi Anwendung des Sat-
zes von der lex posterior (als logisches Prinzip) auch
zwischen den heterogensten Rechtsordnungen her-
beiführen läßt. Auch die herrschende Lehre setzt dunkel und un-
bewußt zur Anwendung des Satzes von der lex posterior eine ge-
wisse Rechtseinheit voraus, verknüpft also nicht wahllos alle be-
liebigen Rechtserscheinungen zu einem Rechtssysteme; anderer-
seits genügt ihr aber, genau besehen, doch wieder jene Einheit
— diese verliert dadurch freilich wieder ihren Charakter als Vor-
aussetzung — die sich a posteriori eben durch die Anwendung
unseres Satzes herausstellt. Diese willkürliche Einheit umschließt
sodann freilich nichtzusammengehörige Rechtserscheinungen.
Dieselbe Vereinigung heterogener Elemente ist aber auch
noch bei dem Anwendungsfelde möglich, das KELSEN unserem Satze
einräumt. Es liegt ein innerer Widerspruch darin, einerseits für
den Gebrauch des oft genannten Interpretationsgrundsatzes die
28 Das ist z. B, dann der Fall, wenn ich der einen älteren Verfassung
Gültigkeit abspreche und der zweiten jüngeren, mit ihr unvereinbaren Gül-
tigkeit zuspreche.
»» A. a. 0. S. 209.