_- 92 —
es nicht Aufgabe der Jurisprudenz sein, deren Beruf unbestrittener-
maßen nur Rechtserkenntnis und nicht Rechtsreform ist, einem
positiven Rechtssysteme etwas zu verschaffen, dessen es von Natur
aus ermangelt, einem Rechtssysteme, das sozusagen ohne Beine
geboren ist, zum Gehen zu verhelfen, eine Abänderbarkeit ihm
aufzupfropfen, wenn es unglücklicherweise unabänderlich geschaffen
ist. Es kann nicht Aufgabe der Jurisprudenz sein, (was sie tatsäch-
lich als ihre Aufgabe zu betrachten scheint), für alle Fälle, ein
denklogisches Prinzip von der lex posterior bereitzu-
halten, wenn und wo einer positiven Rechtsordnung ein Rechts-
satz solchen Inhalts fehlen sollte.
Was, wenn nicht die Rechtsordnung, sollte Erkenntnis-
grund dafür sein, daß man mit einer Rechtsänderung nicht den
Boden der bestimmten Rechtsordnung verlassen hat? Wo wäre
die Schranke, jedwede Rechts- ja Verfassungsänderung, welche
an einem historisch-politischen Staatsindividuum vorgeht, mit Hilfe
des Prinzips der lex posterior juristisch zu erklären, zu recht-
fertigen, das heißt als recht- und verfassungsmäßig hinzustellen,
wenn nicht in der Rechtsordnung, genauer darin, daß die Rechts-
ordnung dieses Prinzip aufstelli? Was sonst als der hier postu-
lierte Rechtssatzcharakter garantiert, daß man sich bei
Anwendung dieses Satzes noch innerhalb einer und derselben
Rechtsordnung bewegt? Was beugt dem vor, daß einem, wenn
man mit diesem Satze Ausgleiche widersprechender Normen vor-
nimmt, schließlich als das Auszugleichende doch nichts anderes
als die Kontrarietät von Rechtssystemen bei gleichzeitiger Identi-
tät der historisch-politischen Gegebenheiten vorschwebt? Konse-
quenterweise muß man mit unserem Prinzipe, so man einmal für
gewisse Fälle, für ein bestimmtes Gebiet, (nenne sich dieses nun
Herrschaftsbereich ein und derselben Rechtsautorität oder sonst
irgendwie), von einer Verankerung des Satzes in der Rechtsord-
Zweifel immer ein praktisches Urteil; und da es als solches geboten ist,
sucht man es nun auch als theoretisches zu geben.