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rechts verwirft v. Horst den Standpunkt, welcher eine Verfassung
als „ein Produkt der abstrakten politischen Spekulation* auffasst,
da „jede lebensfähige Verfassung ein Ausfluss der gewordenen
und werdenden konkreten Verhältnisse“ sei. In der That ist für
das richtige Verständniss jeder Staatsverfassung, auch dann,
wenn sie eine urkundliche Aufzeichnung in einem Grundgesetze
gefunden hat, die Kenntniss der geschichtlichen Begebenheiten
erforderlich, welche zum Erlasse bezw. zur Ausbildung dieser
Verfassung geführt haben; das ist eine seit so langer Zeit und
so allgemein anerkannte Wahrheit, dass, wer sie nicht gelten
lassen wollte, gar nicht im Ernste wagen könnte, Anspruch auf
Beachtung innerhalb der wissenschaftlichen Welt zu erheben.
Aber das schliesst doch andererseits nicht aus, dass jedes Staats-
grundgesetz als ein aus der Flucht der Erscheinungen heraus zu
hebendes, in sich vollendetes, einheitliches Ganzes aufgefasst und
als solches wissenschaftlich zergliedert werden kann und muss;
v. Hoısr aber bestreitet dies nach der einen wie nach der andern
Seite hin, indem er zunächst für unzulässig erklärt, eine Ver-
fassung als ein einheitliches Ganzes anzusehen, dessen einzelne
Theile, von einem bestimmten Grundgedanken ausgehend, eben
darum mit einander in vollkommenem Einklange stehen müssen,
denn etwas anderes kann es doch nicht bedeuten, wenn er
(5. 23 Anm. 1) behauptet, dass sich „eine Verfassung nun eben
einmal nicht aus Einem grundliegenden Gedanken heraus kritisch
entwickeln lasse“. Aber, wenn dem wirklich so wäre, so würde
die Staatsrechtswissenschaft gar nicht mehr für eine selbständige
Disziplin gelten können, denn man müsste dazu gelangen, in
jeder Verfassung eine Reihe zusammenhangloser Bestimmungen
zu sehen, darauf berechnet, das öffentliche Wohl nach verschie-
denen Richtungen hin zu fördern; und der Staatsrechtslehrer
würde alsdann lediglich die Brosamen aufzusuchen haben, die
von dem Tische der Politiker oder Diplomaten fallen. Merk-
würdigerweise sagt v. Horsr an einer andern Stelle (S. 31): „Da
der in der Verfassung zum Ausdruck gelangte Wille des Ver-
fassungsgebers unbedingt massgebend ist, so muss auch ange-
nommen werden, dass dieser Wille sich selbst nie untreu...
geworden ist.“ In diesem Satze, der vielleicht nach anderer
Richtung hin manchem Zweifel begegnen dürfte, liegt doch offen-
bar des Anerkenntniss, dass jede konkrete Verfassung das Er-