Full text: Archiv für öffentliches Recht.Zweiter Band. (2)

wenn man sich nicht seiner Meinung anschliesse, man jede Ver- 
fassung einem „Chinesischen Schuh“ ähnlich gestalte, da sie nur 
einem „Chinesischer Narrheit verfallenen Volksthum entsprechen 
könne“; allein dem ist keineswegs so. Jede Staatsverfassung ist, 
um das hier noch einmal hervorzuheben, das Ergebniss der zur 
Zeit ihrer Entstehung herrschend gewesenen staats- und rechts- 
philosophischen Anschauungen, aus diesen heraus schafft der 
Gesetzgeber, und diese Anschauungen allerdings erfahren im Laufe 
der Zeit die mannigfachsten Wandlungen. Wenn sich nun bei 
Untersuchung eines konkreten Verfassungsrechtes herausstellt, 
dass dasselbe in seinen wesentlichen Grundzügen mit den modernen 
Anschauungen alle Fühlung verloren hat, so kann man sich nur 
mit der der Weltgeschichte entnommenen Erfahrung trösten, 
dass es unweigerlich einer neuen Ordnung der Dinge in abseh- 
barer Zeit wird zu weichen haben; für eine befriedigende wissen- 
schaftliche Lösung bietet es kein Problem mehr. Auch dafür enthält 
gerade die Entwicklung Amerikas einen gewichtigen Beleg: in 
dem Institute der Sklaverei. Wäre irgend ein unbefangener, 
wissenschaftlich durchgebildeter Publiecist im neunzehnten Jahr- 
hundert noch im Stande gewesen, dieses Institut in befriedigender 
Weise dem System des Unionsstaatsrechtes einzufügen? Aber 
wäre es andererseits zulässig gewesen, dasselbe als überlebt zu 
bezeichnen, weil es den praktischen Bedürfnissen nicht mehr ent- 
spreche, oder hätte zu diesem Behufe nicht vielmehr nachgewiesen 
werden müssen, dass es dem ganzen begrifflichen Wesen des 
modernen Staates überhaupt widerstreite und darum schlechter- 
dings widersinnig war in einer demokratischen Republik mit einer 
dem Grundgedanken dieser Staatsform im Uebrigen entsprechenden 
Verfassung? Und weiter: wäre es nicht, auch vor Erlass des 
Amendements XIII, aus eben diesen Gründen. durchaus geboten 
gewesen, die Sklaverei für verfassungswidrig zu erklären, wenn 
der Wortlaut einzelner Bestimmungen dem nicht entgegen- 
gestanden hätte, trotzdem man bei ihrer Abfassung unstreitig 
nicht die Absicht eines diesbezüglichen Verbotes hatte? Das 
Alles beweist aber nichts anderes, als dass man bei der Analyse 
eines konkreten Verfassungsrechtes sich, soweit das mit Rück- 
sicht auf den Wortlaut der Verfassungsurkunde die allgemein an- 
erkannten Regeln über die Auslegung der Gesetze überhaupt ge- 
statten, an diejenigen Gesichtspunkte zu halten hat, welche dem
	        
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