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ist der Hauptnachtheil darin hervorgetreten, dass die Bestim-
mungen der Civilprocessordnung in München anders wie in
Leipzig aufgefasst und ausgelegt wurden. Die Gegner der Vor-
schrift des $ 7 des Einführungsgesetzes hatten gerade diesen
Uebelstand vorausgesagt und ihn als eines ihr gewichtigsten Ar-
gumente benützt, allein der Vertreter des Bundesrathes hielt
ihnen entgegen, dass die deutsche Prozesswissenschaft dies ver-
hüten bezw. die Verschiedenheiten ausgleichen werde. Die Er-
fahrung weniger Jahre hat gezeigt, dass die Prozesswissenschaft
dies nicht thut und auch nicht thun kann, und es ist überhaupt
eine Ueberschätzung des Einflusses, den die Wissenschaft auf
die praktische Rechtspflege ausübt, wenn man von ihr eine Ver-
hütung, oder doch wenigstens eine Ausgleichung schroffer Gegen-
sätze erwartet. Die Zulassung eines obersten Landesgerichts mit
einer dem Reichsgerichte konkurrirenden Kompetenz kann darum
nach wie vor nur als ein Abweichen von dem Gedanken der
Rechtseinheit bezeichnet werden. Nicht nur dies ist der Nach-
theil, welchen diese Institution mit sich bringt, sondern auch
die nationale Bedeutung des Reichsgerichts wird durch sie be-
einträchtigt.
Wenn man mit Recht zu behaupten pflegt, dass kein Band
die nationale Zusammengehörigkeit stärker zum Ausdruck
bringe, als die Einheit des Rechts, so darf man daneben ganz
getrost den Satz stellen, dass keine Einrichtung des Staats-
und Rechtslebens, abgesehen von der Einheit des Souveräns, das
Bewusstsein der nationalen Einheit in dem Volke so kräftigt
wie ein für das ganze Gebiet bestellter oberster Gerichtshof.
Es mag paradox erscheinen, wir halten es aber trotzdem auf-
recht, dass die Existenz eines obersten Gerichtshofs das natio-
nale Gefühl vielleicht mehr stärkt und mehr belebt, als die Exi-
stenz einer einheitlichen Volksvertretung. Frankreich dankt
seinem Kassationshofe mehr als die einheitliche Rechtsauslegung,
denn auch jenes mächtig entwickelte Gefühl für die Zusammen-
gehörigkeit dankt es diesem Kassationshof, welcher gleich einem
Felsen alle Stürme und Umwälzungen überlebt hat. Die natio-
nale Bedeutung des deutschen Reichsgerichts ist eine ge-
des obersten Landgerichts vom 30. Mai 1884, Zeitschr. f. franz. Civilrecht,
Bd. 16, S. 574 und 114.