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sätzen unverändert bleibt, bis und soweit die neue Staatsgewalt
eine Aenderung eintreten lässt. Ausgenommen bleiben nur die-
jenigen für das erworbene Gebiet bisher geltenden verfassungs-
rechtlichen Bestimmungen, die mit der Einverleibung in das neue
Staatswesen unvereinbar sind und daher mit der Eroberung oder
Abtretung von selbst ausser Kraft treten. Die staatsrechtlichen
Streitfragen, die sich aus diesen völkerrechtlichen Grundsätzen
für die Kolonien im einzelnen ergeben, sind dem deutschen Staats-
rechte bisher fremd, da Deutschland noch keine Kolonien durch
Eroberung oder Abtretung erworben hat !).
Durch Besitzergreifung können nur erworben werden bisher
herrenlose Gebiete. Diese Erwerbsart wird bereits von Huco
Grorıus?) anerkannt: „Okkupation oder Besitzergreifung dessen,
was bisher niemand gehörte, ist die einzige natürliche und ur-
sprüngliche Erwerbsart, d. h. die einzige Erwerbsart nach Natur-
recht ohne Ableitung eines Titels von einer andern Person.“
Es fragt sich nur, welches Gebiet herrenlos ist. Das ältere Völker-
recht, welches privatrechtliche und völkerrechtliche Gesichtspunkte
vermengte, verstand unter herrenlos nur vollständig unbewohnte
Gebiete, in denen also kein privatrechtliches Eigenthum bestehen
konnte. Schon sehr früh gab man aber wenigstens praktisch den
privatrechtlichen Gesichtspunkt auf und sah als herrenlos an alle
die Gebiete, die noch nicht von einem christlichen Volke oder
Fürsten in Besitz genommen waren. So ermächtigte König Hein-
rich III. von England Cabot, unter englischer Flagge nach Osten,
Westen oder Norden zu segeln und in des Königs Namen von
allen durch ihn entdeckten Ländern Besitz zu ergreifen, die noch
nicht durch die Unterthanen eines christlichen Herrschers in Be-
sitz genommen waren. Daraus, dass Cabot auch der Handel mit
den Ureinwohnern gestattet war, ergibt sich, dass es sich nicht
nur um völlig unbewohnte Gegenden handelte. Ebenso gab
Königin Elisabeth von England Sir Humphrey Gilbert Vollmacht,
von allen entfernten und barbarischen Gegenden Besitz zu er-
greifen, soweit dies nicht schon durch einen christlichen Fürsten
!) Ueber das englische Recht vgl. in dieser Beziehung E. Creasy, The
imperial and colonial constitutions of the Britannic Empire, London 1872,
S. 220 f£., wo namentlich die Rechtsprechung der obersten englischen Reichs-
gerichte berücksichtigt ist.
2, H. Grorıus, De jure belli ac pacis, lib. 2, c. 3, sect. 4.