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Es darf jedoch dabei nie übersehen werden, dass die Ver-
hältnisse des eidgenössischen Staatsrechtes sich nur aus einer
gewissen Kenntniss der cantonalen Eigenthümlichkeiten erklären
lassen, die auf weit engerem Raume dennoch eben so gross und
historisch ebenso fest begründet sind, als diejenigen der viel grösseren
Bundesstaaten und dass ferner selten in der Eidgenossenschaft ein
erheblicher politischer Fortschritt oder Rückschritt erfolgt ist, ohne
dass vorher eine Vorprobe der nämlichen Action schon in ein-
zelnen Cantonen stattgefunden hätte. Es gibt Cantone, die
bestimmte politische Ideen und Tendenzen historisch vertreten
und mit denselben vorangehen, wenn Zeit und Gelegenheit dazu
vorhanden zu sein scheint, andere, deren eigenthümliche Natur
und Verfassung sie von jeder sehr activen Rolle fernhält, dritte,
die durch ihr spezifisches Gewicht den Sieg einer Sache definitiv
entscheiden 5?). Den Spuren dieser letzteren folgt dann gewöhn-
lich die Eidgenossenschaft. Es zeigt sich eben auch hier, dass
das paradoxe Wort DE Maıstke’s, die wahre Verfassung eines
Staates sei stets die ungeschriebene, richtig verstanden seine er-
hebliche Wahrheit hat und der Unterschied zwischen theoretischen
und praktischen Staatsmännern der Demokratie besteht wesent-
lich in der grösseren oder geringeren Fertigkeit die Paragraphen
dieser ungeschriebenen Verfassung zu entziffern und richtig
zu deuten.
Von einer Einführung des Volksabstimmungsrechts in irgend
einer Form für die eidgenössische Gesetzgebung war, wie bereits
endlich hat noch die Repräsentativverfassung mit unbedingter gesetzgebender
Gewalt des Grossen Raths beibehalten. Die rein demokratischen Cantone
mit Landsgemeindeverfassung oder ebligatorischem Referendum, sind somit,
wenn man sie zusammenrechnet, um eine halbe Cantonsstimme in der Mehr-
beit. Von den einzelnen Systemen der Gesetzgebung jedoch hat das facul-
tative Referendum mit oder ohne Initiative zur Stunde noch den Vorzug
in den Cantonen, wie in der Eidgenossenschaft selber. Die nähere Beschrei-
bung der cantonalen Einrichtungen folgt in der zweiten Abtheilung dieses
Aufsatzes.
5?) Zu den ersteren gehören besonders Waadt, Genf, Baselland, Aargau,
Luzern, mitunter auch St. Gallen und Graubünden, zu den anderen die
Landsgemeinde-Cantone, Schwyz, Zug, Wallis, zu der letzten Categorie
vorzugsweise Zürich und Bern.