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zu lesen sei, d. h. dass sie nicht von dem Gesammtvolk, sondern
von dem Volk der Einzelstaaten rede, aber auch sie haben ihr
stets rechtliche Bedeutung und Kraft zugesprochen: in vollkom-
mener Uebereinstimmung haben die nationalistische und die staaten-
rechtlerische verfassungsrechtliche Schule die Preamble dahin ver-
standen, dass sich in ihr „das Volk“ für den alleinigen Inhaber
der Souveränetät und die Verfassung für den Ausfluss seines sou-
veränen Willens erklärt, d. h. sie haben in ihr nicht eine recht-
lich indifferente „Einleitungsklausel“ gesehen, sondern sie als
Rechtsbasis des ganzen Grundgesetzes „der Union als solcher“
anerkannt.
In seinem Buch (pag. 70) hat SCHLIEF gesagt, die Preamble
„ist offenbar eine Nachahmung der in den constitutionellen
Monarchien bis auf den heutigen Tag gebrauchten Eingangsformel
für die Gesetze: Wir von Gottes Gnaden König“. In meinem
„Staatsrecht* (p. 28) erkläre ich das für „eine Behauptung, die
auch bei ganz oberflächlicher Bekanntschaft mit der Entstehungs-
geschichte der Verfassung schlechthin unverständlich ist“. Schlecht-
hin unverständlich ist mir jetzt weiter, wie SCHLIEF hat glauben
können, darin die Berechtigung zu dem Satz zu finden: „Trotz
eines so absprechenden Urtheils wird aber doch vielleicht auch
jetzt noch mancher Sachkenner bereit sein, in der Preamble eine
Bestätigung für die nicht nur in der amerikanischen Juristenwelt,
sondern allen Schichten des Volkes vorherrschende und uner-
schütterliche Ueberzeugung von der unbedingten Volkssouveränetät
zu finden.“ Habe ich das etwa je und irgendwie bestritten?
Ich habe nicht nur „selbst an verschiedenen Stellen anerkannt,
dass in den Vereinigten Staaten die Souveränetät beim Volke
ruhe“ (Abh. p. 83), sondern ich habe in der Besprechung
der „sog. Präambel“ im Anschluss an FARRAR die üblich ge-
wordene Bezeichnung Preamble beanstandet, „da es ein aus den
englischen Recht herübergenommener technischer Ausdruck ist,
der wesentliche Theile dieses Eingangssatzes der Verfassung nicht
deckt“, und dann weiter gesagt: „Er spricht nicht nur, wie eine
Präambel, von den Motiven und Zwecken des Gesetzgebers; die
Autorität, die ihren Willen kundgibt, nennt sich und sie sagt,
was diese ihre Willensäusserung ist und für wen sie verbindlich