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Die Prüfung der Staatsverfassung aber hat in ganz anderer
Weise zu erfolgen, als die der Bundesverfassung, wo es sich um
Ermittelung der Befugnisse der Bundesregierung handelt. In dem
letzteren Falle gilt und hat immer ganz unbedingt der Grund-
satz gegolten, dass die Fragestellung lauten muss: ist ihr die
Befugniss verliehen worden? in dem ersteren dagegen — was
die Kompetenz der gesetzgebenden Gewalt anlangt
— gerade umgekehrt: ist ihr die Befugniss vorenthalten
worden. Sämmtlichen Partikularregierungen werden aber von den
resp. Verfassungen allerlei Befugnisse vorenthalten und es ist
noch nie gefolgert worden — auch SCHLIEF wird fraglos nicht
den Schluss ziehen — dass sie darum der Bundesregierung zu-
stehen müssen. Die Summe der Befugnisse, mit denen die
Bundesregierung und die Partikularregierungen zusammengenommen
ausgestattet sind, ist also thatsächlich eine beschränkte Gewalt
und durch den Willen sowohl „des Volkes der Vereinigten
Staaten“ wie des Volkes der Einzelstaaten können weitere Be-
schränkungen derselben erfolgen’). Daraus scheint mir direkt
zu folgen, dass das IX. und X. Amendement eine juristische
Bedeutung nicht nur haben können, sondern auch haben müssen,
obwohl — wie ich gerne hervorhebe — aus Gründen, auf deren
Erörterung hier nicht eingetreten werden kann, nicht nur eine
spezificirende Ausdeutung derselben auf unüberwindliche Schwierig-
keiten stösst, sondern auch die amerikanischen Publicisten nicht
einmal darüber einer Ansicht sind, ob im X. Amendement unter
people „das Volk der Vereinigten Staaten“ oder das Volk der
Einzelstaaten, oder dieses wie jenes zu verstehen sei.
In diesem Zusammenhange muss auf einen weiteren ver-
fassungsgeschichtlichen Irrthum ScHLier’s aufmerksam gemacht
werden. Er meint HAMILTON und andere besonders einsichtige Köpfe
hätten das, was man in Amerika oft die bill of rights der Ver-
fassung nennt — SCHLIEF sagt „Menschenrechte* — „der Gesetz-
gebung selbst“ überlassen wollen in der Voraussetzung, dass eine
auf demokratischer Grundlage ruhende Regierung die bezüglichen
Grundsätze „ohnehin in entsprechender Weise zur Geltung bringen
5) Siehe auch die näheren Ausführungen in $ 15 meines Staatsrechts.