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Der in der Verfassung gegebene Rahmen erhält durch die
Gesetzgebung einen konkreten Inhalt, der nicht nur beständig
wächst, sondern sich auch vielfach ändert. Die Prinzipien sind
in der Verfassung unwandelbar fixirt — natürlich vorbehaltlich
einer verfassungsmässigen Aenderung der Verfassung — aber in
der Anwendung der Prinzipien treten mit den sich ändernden
thatsächlichen Verhältnissen und Anschauungen der handelnden
Menschen mehr oder minder erhebliche Modifikationen ein. Dass
der Philadelphia Konvent die Prinzipien in solcher Weise formulirt
und fixirt hat, dass dieses geschehen kann, ohne dem Geist oder
dem Buchstaben der Verfassung Gewalt anzuthun, das ist es mit
in erster Linie, was sein Werk zu einem Meisterwerk stempelt und
ihm Anspruch auf die ewige Dankbarkeit des amerikanischen
Volkes gibt. Mit vollem Bewusstsein hat er ihr „eine von
förmlichen Aenderungen unabhängige gewisse Wandlungsfähigkeit“
gegeben !°), die für einen Staat, der in so eminentem Maass ein
werdender ist und dessen Werdegang eine damals nicht zu ahnende
beispiellose Rapidität gewinnen sollte, in ungleich höherem Grade
als je für einen andern Verfassungsstaat eine Nothwendigkeit war.
Die Erkenntniss dieser Nothwendigkeit hat ihn u. a. dem Kon-
gress gewisse Befugnisse ohne die Verpflichtung, dieselben auch
auszuüben, geben lassen. SCHLIEF verkennt oder bestreitet das.
Er behauptet: „Die Befugnisse, welche die Konstitution der
Bundesregierung verleiht, müssen von dieser ausgeübt werden“
(Abh. p. 88). Ob das richtig ist, wenn man mit „mathematisch
scharfen Formeln“ rechnet, will ich ununtersucht lassen; der
Philadelphia Konvent hat aber nicht mit solchen Formeln gerechnet
oder rechnen wollen und ist, wie ganz unzweifelhaft aus seinen
Debatten erhellt, anderer Ansicht gewesen. Der Kongress und
die Gerichte haben seit jeher dieser Ansicht beigepflichtet und
sie sind ebenso einhellig stets nicht der Ansicht ScHLiEr’s
gewesen, dass wenn die Einzelstaaten doch Befugnisse ausüben,
1%) Bei der Ausführung dieses Gredankens im Staatsrecht sage ich:
„Eine Verfassung, die einem chinesischen Schuh gleicht, kann nur einem
chinesischer Starrheit verfallenen Volksthum entsprechen“. SCHLIEF hat
leider den verdriesslichen Druckfehler übersehen, der mich in seiner Ab-
handlung von „chinesischer Narrheit“ sprechen lässt.