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fortgeführt werden, wenn man mit „mathematisch scharfen Formeln“
„aus Einem Grundgedanken heraus“ das Verfassungsrecht syste-
matisch konstruiren will? Dass man auf diesem Wege nicht zu
einer richtigen Darstellung des geltenden Verfassungsrechts
gelangen kann, ist meines Erachtens unbestreitbar. Nur dem
Versuch, das zu thun, habe ich die Möglichkeit des Gelingens
absprechen wollen. Dass eine systematisch kritische Beleuchtung
des Verfassungsrechts aus Einem Grundgedanken heraus unter
Anwendung mathematisch scharfer Formeln überhaupt unstatthaft
sei, ist nie meine Ansicht gewesen. Bereitwilligst gebe ich zu,
dass sie nicht nur theoretisch berechtigt ist, sondern auch praktisch
fruchtbringend werden kann, und „die Vorschule eines preussischen
Juristen“ ist gewiss eine treffliche Austattung für ein solches
Unternehmen.
Wenn ScCHLIEF aber schreibt: „Trotz dieser Methode aber
oder vielmehr unter Anwendung derselben dürfte sich das in
Wahrheit geltende Recht der Union in befriedigender Weise
entwickeln lassen, denn das geltende Recht ist... nicht immer
dasjenige, worauf der Gesetzgeber sein Augenmerk gerichtet
hat, sondern dasjenge, was, nach der gegenwärtigen Lehre der
Wissenschaft, als Inhalt des gegebenen Gesetzes erscheint,“
so kann ich dem nicht beipflichten. Ich verstehe unter dem gel-
tenden Recht, wie schon gesagt, das in Kraft befindliche,
wirkende, vom Gesetzgeber und den Gerichten zur An-
wendung gebrachte. Das ist jedenfalls die gewöhnliche, um
nicht zu sagen allgemeine Deutung des Wortes und ich bin
überzeugt, dass Professor MARQUARDSEN und die Leser seines
Handbuches des Oeffentlichen Rechtes von mir eine Darstellung
des Verfassungsrechtes der Union in diesem Sinne und nicht ın
dem Sinne ScHLIEF’s erwarteten und zwar um so mehr, als der
Satz: „was, nach der gegenwärtigen Lehre der Wissenschaft, als
Inhalt des gegebenen Gesetzes erscheint“, doch thatsächlich
darauf hinausläuft: was nach Dr. SCHLIEF’s Auffassung von
der gegenwärtigen Lehre der Wissenschaft als Inhalt des ge-
sebenen Gesetzes erscheint, und er sich dabei — wie ich an zahl-
reichen Beispielen nachgewiesen habe und noch an einer grossen Zahl
anderer Beispiele nachweisen könnte — auf Schritt und Tritt in