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bilden auch nur sie -—- in ihrer Gesammtheit — das eigentliche Verfassungs-
recht und folgeweise den Gegenstand des juristischen Studiums. Die uner-
zwingbaren Maximen etc. hingegen, welche vom Verfasser „conventions“
genannt werden, stellen sich nur als eine Art constitutioneller Moral dar
und kommen nur indirekt, in ihrer Beziehung zum eigentlichen Verfassungs-
recht in Frage. (Vorl. VIII.)
Nachdem so der Gegenstand bestimmt worden ist, wird in den drei
folgenden Vorlesungen das erste und wichtigste Grundprincip der englischen
Verfassung besprochen : Das vorherrschende Merkmal, so sagt die II. Vor-
lesung, ist die Souveränität des Parlaments. Das Parlament (d. i. König
und die beiden Häuser in ihrem Zusammenwirken, sog. King in Parliament)
hat eine absolute gesetzgebende Gewalt. Es kann daher im Wege der
Gesetzgebung Alles thun, was überhaupt nur natürlich möglich ist, so die
Religion, die Thronfolge, die Verfassung des Parlaments umgestalten , so
auch jedes bestehende Privatrecht aufheben oder verändern. Anderseits hat
Niemand eine mit dieser concurrirende Gewalt, d. h. Niemand kann Recht
setzen, das im Widerspruch mit einem Parlaments-Gesetz von den Gerichten
zu befolgen wäre ; also nicht der König, nicht eines der beiden Häuser allein,
nicht die Wähler der Abgeordneten, nicht die Gerichtshöfe, obgleich die
letzteren nicht selten neues Recht schaffen.
Trotzdem aber begegnet der Satz, ‘dass das Parlament souverän sei,
vielfach Zweifeln. Diese sind zum Theil in der Theorie begründet, dass die
Souveränität neben dem König und dem Haus der Lords der Wählerschaft
und auch nur der Wählerschaft zukomme, allein diese Anschauung ist ent-
schieden falsch, da es rechtlich gar nicht auf den Willen der Wähler, sondern
nur auf jenen des Parlaments ankommt. Zum Theil aber beruhen diese
Zweifel auf den Beschränkungen äusserer und innerer Art, welchen die that-
sächliche Ausübung der Souveränität unterworfen ist.
In der III. Vorlesung wird das Wesen der legislativen Souveränität
des Britischen Parlaments durch eine Vergleichung mit der Stellung nicht
souveräner gesetzgebenden Körperschaften näher veranschaulicht. Das bri-
tische Parlament, so wird uns hier gesagt, kann jegliches Gesetz mit gleicher
Leichtigkeit abändern, gleichviel, ob es sich auf die Grundinstitutionen des
Staatswesens bezieht oder nicht. Daher gibt es denn auch keine bestimmte
Scheidung zwischen Verfassungs- und anderen Gesetzen, ein Umstand, mit
dem es auch zusammenhängt, dass ein besonders dringendes Bedürfniss für
Aufzeichnung der ungeschriebenen britischen Verfassung nicht existirt; und
endlich hat Niemand in der Welt ein Recht, ein Statut des Parlaments als
nichtig zu erklären, weil es einem Verfassungsgesetze widerspräche.
Im Gegensatze zum Parlament gibt es vielfach Körperschaften, von
Dicey nicht souveräne gesetzgebende Körper — non sovereign law-making
bodies — genannt, welche nicht in der Lage sind 1. jegliches Gesetz ohne
Unterschied zu ändern, 2. in Ansehung derer daher ein bestimmter Unter-
schied zwischen Grund- und anderen Gesetzen besteht, sowie 3. gewisse
Körperschaften, nämlich die Gerichte, berechtigt sind, über die Verfassungs-
mässigkeit der von ihnen erlassenen Gesetze zu befinden.
Solcher Art sind die Eisenbahngesellschaften, welche berechtigt sind,
innerhalb des ihnen Korporationsrechte verleihenden Statutes (durch Strafen
erzwingbare) Rechtsvorschriften (sog. bye-laws) zu erlassen, welche selbstver-