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Trotz der vielen und zum Theil hervorragenden Arbeiten über eng-
lische Verfassung hat es bisher doch an einem Werke gefehlt, welches das
Schwergewicht auf die Darstellung des geltenden Rechts gelegt hätte. Dieser
Mangel ist, namentlich in jüngster Zeit, schwer empfunden worden, und ihm
sucht das uns vorliegende Buch von Sır WırLıam Anson abzuhelfen. Es ist
(jedenfalls in englischer Sprache) der erste Versuch, eine systematische Dar-
stellung des englischen Verfassungsrechts zu liefern.
Wenn nun auch aller Anfang schwer ist, so mussten sich doch diesem
Versuche besondere Schwierigkeiten entgegenstellen, Schwierigkeiten, die
namentlich in der innigen Verknüpfung des geltenden Rechts mit seiner
Entwicklung zu suchen sind. Ueberaus häufig treten uns Vorschriften ent-
gegen in einer Form, welche ohne Zurückgreifen auf ihre Entwickelung und
namentlich ihre Entstehungsthatsachen nicht verstanden werden können. Unter
solchen Umständen war eine Bezugnahme auf die Geschichte nicht zu um-
gehen, aber dieselbe musste sich auf das zum Verständniss des geltenden
Rechts schlechthin Nothwendige beschränken. Demgemäss ist die Darstellung
des Verfassers in der Hauptsache eine systematische, während das historische
Material in Form von Einleitungen und Erörterungen zu den einzelnen
Lehren geboten wird. Damit hat der Verfasser jedenfalls dem Bedürfniss
des Studierenden Rechnung getragen, dessen Bestreben sich naturgemäss
immer auf Bewältigung des geltenden Rechtes richten und der Alles andere
nur als ein Mittel zur Erreichung dieses Zweckes betrachten wird. Freilich
hat man vielfach gegen die Verbindung von historischer und systematischer
Darstellung Widerspruch erhoben, allein das Beispiel unserer Institutionen-
vorlesungen zeigt deutlich, dass eine solche Verbindung nützlich, ja vom
Standpunkt des Unterrichts aus, geboten sein kann. Trotz eigener Vorlesungen
über römische Rechtsgeschichte enthalten die Institutionen doch regelmässig
soviel historisches Beiwerk als erforderlich ist, um den Hörer zum Studium
der Pandekten zu befähigen. Eine Vorbereitung ähnlicher Art aber scheint
auch gegenüber dem Detail des englischen Verfassungsrechts am Platze.
Denn ähnlich wie das corpus iuris civilis uns Regeln überliefert, die einem
Zeitraum von mehr als tausend Jahren angehören, so mahnt das englische
Verfassungsrecht in zahlreichen Satzungen an eine tausendjährige Vergangen-
heit und kann ohne jegliche Bezugnahme auf dieselbe ebenso wenig verstan-
den werden, wie die Justinianischen Rechtsbücher.
Und, — so können wir den Parallelismus weiter führen — wie die
Verfasser der Institutionenlehrbücher es sich nicht versagen können, ein-
leitend der Rechtsentwicklung in ihren Hauptmomenten und insonderheit
der Entstehung und Geschichte des Gegensatzes von ius civile und ius gen-
tium zu gedenken, so fühlt sich der Verfasser gedrungen (im 2. Kap.) eine
kurze Uebersicht über die Hauptentwickelungsphasen der englischen Ver-
fassung zu geben, um so den Leser in Stand zu setzen, die einzelnen Regeln
chronologisch dem allgemeinen Entwicklungsgang einzuordnen; eine Absicht,
welche die klare und lichtvolle Darstellung des Verfassers zu erreichen voll-
ständig geeignet erscheint.
So auf das Studium der Verfassung vorbereitet, wird der Leser gleich-
wohl in einem weiteren einleitenden Kapitel (Kap. 3) mit einigen Eigen-
thümlichkeiten derselben bekannt gemacht. Diese beruhen , nach Axson,
insbesondere darauf, dass die englische Verfassung ganz allmählich entstanden